Syrien „am Tag danach“

Syrien „am Tag danach“
 
Jonathan D. Halevi
 
 
·          Für Syrien schlägt bald die Stunde der Wahrheit. Das Regime Bashar Assads steht in Rückzugsgefechten und hat über weite Teile des Landes die Kontrolle verloren. Der syrische Vizepräsident Farouq al-Shara gab am 17. Dezember in einem Interview mit der libanesischen Zeitung al-Akhbar zu, dass er nicht daran glaube, dass die syrische Armee diesen Kampf noch gewinnen könne.
 
·          Es ist eher unwahrscheinlich, dass das Assad-Regime darauf hofft, den Status Quo Ante mit Hilfe chemischer Waffen wiederherzustellen. Stattdessen scheint wahrscheinlich, dass es sich darum bemühen wird, den Großteil seiner loyalen Truppen und strategischen Waffen (einschließlich der chemischen) in die alawitischen Enklave im Westen des Landes zu verlegen, um dort in der zukünftigen syrischen Ordnung als Abschreckung gegen Racheakte und als politische Trumpfkarte der alawitischen Bevölkerung zu fungieren.
 
·          Während die Vereinigten Staaten und andere westliche Länder den Syrischen Nationalrat als einzigen und exklusiven Repräsentanten des syrischen Volkes anerkannt haben, betrachten die Rebellen diese neue Führung als von außen aufoktroyiert und sind allenfalls vorübergehend bereit, sie als Akteur zu akzeptieren, dem es gelingt, die zum Sturz des Regimes nötige internationale Unterstützung zu generieren.
 
·          Tatsächlich wird der syrische Aufstand von militärischen Verbindungen dominiert, die das Regime seit März 2011 bekämpfen. Die überwiegende Mehrheit dieser Gruppen treten für islamistische, dschihadistische oder salafistische Überzeugungen ein.
 
·          Die umfassende Unterstützung der Rebellen für die al-Nusra-Front, einem Arm der al-Qaida, gegen den Willen der Vereinigten Staaten und des Westens deuten die zukünftige Ausrichtung der syrischen Revolution an, die bereit zu sein scheint, den Islamismus zur Grundlage einer das Assad-Regime ersetzenden Regierung zu machen.
 
·          Nach dem Sturz des Assad-Regimes dürfte Israel mit aller Wahrscheinlichkeit für eine Übergangszeit eine militärisch-terroristische Gefahr erwachsen. Diese Phase dürfte durch eine Instabilität der Regierung und einem Mangel an Kontrolle einiger Kampfverbände durch die Zentralgewalt geprägt sein.
 
Das Assad-Regime im Rückzugsgefecht
 
Für Syrien schlägt bald die Stunde der Wahrheit. In einem Interview mit der libanesischen Tageszeitung al-Akhbar gab der syrische Vizepräsident Farouq al-Shara am 17. Dezember zum ersten Mal zu, dass die syrische Armee diesen Kampf nicht gewinnen könne: „Ich glaube nicht daran, dass das, was die Sicherheitskräfte und die Armee leisten, einen entscheidenden Sieg bringen wird.“
 
Die Rebellentruppen, geführt von alliierten dschihadistischen Gruppen haben auf dem Schlachtfeld die Oberhand und bedeutende Gewinne erzielt, als sie eine mit zahlreichen Waffen und Munition ausgestattete große Militärbasis bei Aleppo einnahmen[1] sowie später in erbitterten Kämpfen in den Vororten der Hauptstadt Damaskus einschließlich des palästinensischen Flüchtlingslagers Yarmouk. Die Freie Syrische Armee behauptet bereits, dass sie einen Großteil der Verteidigungsbasen im Gouvernement Damaskus erobert hätte.[2]
 
Das Regime Bashar Assads steht in einem Rückzugsgefecht und hat über weite Teile des Landes die Kontrolle verloren, die aber dennoch von den Teilen der syrischen Luftwaffe und Artillerie unter Beschuss genommen werden, die ihm noch die Treue halten.[3] Assad zieht seine Stärke aus der Bevölkerungsgruppe der Alawiten, die das Rückgrat der Armee stellt, und aus der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Hilfe, die er aus Russland, dem Iran und von der Hisbollah erhält. Die letzten beiden haben sogar Truppen entsandt, die beratend und operationell bei den Kämpfen helfen.
 
Eine Ahnung, dass das Ende des Regimes unmittelbar bevor steht, wurde vom stellvertretenden russischen Außenminister Mikhail Bogdanov geäußert, der feststellte, dass Assad die Kontrolle des Landes verliere und eine Machtübernahme der Rebellen nahe sei. Obwohl Russland seine Politik auf offizieller Ebene nicht geändert hat, so scheint es doch bereit, seine Interessen zu sichern, sollte das Regime stürzen.
 
Ein Wendepunkt war erreicht, als die Vereinigten Staaten die Syrische Nationalkoalition als die einzige und ausschließliche Repräsentation des syrischen Volkes anerkannte. Die USA und andere westliche Staaten ebenso wie der Block der arabischen und islamischen Staaten, die die Rebellen unterstützen, haben ein Interesse daran, eine nationale Führung aufzubauen, welche die Rebellentruppen unter ihrem Kommando zu vereinigen und als legitime Übergangsregierung zu fungieren vermag, womit eine stabile Übergangsphase und fortgesetzte geografische wie administrative Kohärenz Syriens gewährleistet werden soll.
 
Das letzte Stadium und seine Implikationen
 
Der Anfang vom Ende lässt folgende Implikationen zu:
 
Das Assad-Regime hat seine Legitimität längst verloren und kann sich nur noch durch einen immer stärkeren Einsatz von Feuerkraft unter Verursachung immer höherer Opfer unter den Rebellen und der sie unterstützenden Zivilbevölkerung etwas länger an der Macht halten.
 
Die Machtübernahme großer Teile Aleppos durch die Rebellen dürfte den Zusammenbruch der Armeeherrschaft in der Region auslösen. Dadurch würde ein Momentum für ähnliche Prozesse in Nordsyrien entstehen, was die Mobilisierung und Organisation für Truppen für eine entscheidende Schlacht in Damaskus gestatten sollte – wenn nicht die bereits jetzt geführte Kampagne einen Durchbruch erzielt.
 
Bislang hat die syrische Armee in ihren Angriffen auf die Rebellen und die Zivilbevölkerung alle ihr zur Verfügung stehenden Waffen eingesetzt, bis auf die chemischen. Die klare Botschaft der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Länder, dass der Einsatz von Chemiewaffen eine westliche Militärintervention zum Sturz des Regimes nach sich ziehen würde, hat abschreckend gewirkt.
 
 
Es ist eher unwahrscheinlich, dass das Assad-Regime darauf hofft, den Status Quo Ante mit Hilfe chemischer Waffen wiederherzustellen, selbst wenn dadurch der Zivilbevölkerung schwere Verluste zugefügt werden würden. Stattdessen scheint wahrscheinlich, dass es sich darum bemühen wird, den Großteil seiner loyalen Truppen und strategischen Waffen (einschließlich der chemischen) in die alawitischen Enklave im Westen des Landes zu verlegen, um dort als Abschreckung gegen Racheakte und als politische Trumpfkarte der alawitischen Bevölkerung in einer zukünftigen syrischen Ordnung zu fungieren.
 
Die Syrische Nationalkoalition hat sich tatsächlich internationale Anerkennung gesichert und projiziert ein gemäßigtes Bild der syrischen Oppositionskräfte. Die Realität ist komplexer. Die Rebellentruppen betrachten die neue Führung der Opposition als aufoktroyiert und sind allenfalls vorübergehend bereit, sie als Akteur zu akzeptieren, dem es gelingt, die zum Sturz des Regimes nötige internationale Unterstützung zu generieren.
 
Die dominanten Kräfte
 
Tatsächlich wird der syrische Aufstand von militärischen Verbindungen dominiert, die das Regime seit März 2011 bekämpfen. Diese Strukturen, die über eine breite Unterstützung in der Bevölkerung verfügen, werden mit aller Wahrscheinlichkeit eine Beteiligung an der neuen Regierung sowie einen prägenden Einfluss auf das neue Syrien einfordern.
 
Eine Analyse der ideologischen Grundlagen dieser Truppen zeigt, dass die überwiegende Mehrheit, wenn nicht gar alle, mit variierender Schärfe für islamistische, dschihadistische oder salafistische Überzeugungen eintreten. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist der Wunsch der Errichtung eines von der sunnitischen Mehrheit beherrschten Syrien, das sich zunächst und vor allem als islamischer Staat definiert.
 
Die al-Nusra-Front, die sich mit der irakischen al-Qaida identifiziert, gilt als eine der mächtigsten Rebellengruppen und erfreut sich einer massiven allgemeinen Sympathie, sowohl aufgrund ihrer Erfolge auf dem Schlachtfeld wie auch wegen ihrer Hilfe für die Zivilbevölkerung. Nur wenige Tage, nachdem die Vereinigten Staaten sich entschlossen hatten, sie auf die Liste der terroristischen Organisationen setzen zu lassen, kam es zu Massendemonstrationen in Syrien in Unterstützung der Organisation unter der Parole: „Es gibt keinen Terror in Syrien außer dem Terror des Assad-Regimes.“ Trotz der internationalen Vernetzung der al-Nusra-Front wies sogar die Syrische Nationalkoalition die amerikanische Entscheidung zur Klassifizierung der al-Nusra als Terrororganisation zurück. Diese umfassende Unterstützung für die al-Nusra-Front, einem Arm der al-Qaida, gegen den Willen der Vereinigten Staaten und des Westens deuten die zukünftige Ausrichtung der syrischen Revolution an, die bereit zu sein scheint, den Islamismus zur Grundlage einer das Assad-Regime ersetzenden Regierung zu machen.
 
Unter der Oberfläche operieren zudem zwei wesentliche islamistische Strömungen in Syrien: Die Muslimbruderschaft von der Türkei aus und Hizb ut-Tahrir, die zur sofortigen Errichtung eines islamischen Kalifats aufruft. Offiziell unterhalten die Muslimbrüder keine Kampftruppen in ihrem Namen. Zeugenaussagen zufolge sind jedoch einige der paramilitärischen Verbindungen, die in den letzten zwei Jahren entstanden, mit der Bewegung zu identifizieren und kontrollieren zahlreiche Finanzquellen der Golfstaaten und damit einigen Einfluss unter den Rebellentruppen. Die Bruderschaft dürfte sehr wahrscheinlich eine wichtigere Rolle nach dem Sieg der Revolution einnehmen und mit Hilfe der Türkei und Ägyptens danach streben, alle islamischen Fraktionen unter ihrer Führung zu vereinigen.
 
Das wesentliche Ziel des neuen Regimes wird sein, mit türkischer Hilfe die geografische Kohärenz Syriens zu bewahren und die Aufteilung des Landes in seine ethnisch-religiösen Bestandteile (sunnitisch, alawitisch, kurdisch, drusisch) zu verhindern. Bislang haben die Rebellentruppen, abgesehen von einigen spezifischen Racheakten Massaker an der alawitischen Bevölkerung verhindert. Es geht dabei darum, den alawitischen Offizieren und Soldaten der Regierungstruppen einen Ausweg zum Desertieren zu ermöglichen, um so den Zusammenbruch der Armee zu beschleunigen. Diese Zurückhaltung muss aber nicht halten, sobald das Regime kollabiert ist, denn nicht wenige Stimmen unter den Rebellen rufen nach Vergeltung. Eine mögliche Lösung für die neue Situation wäre eine eventuelle syrische Föderation, in der den Minderheiten eine begrenzte rechtliche Autonomie gewährt wird.
 
Die syrische Revolution hat die Ressourcen der syrischen Armee ausgeblutet. Die Rebellenkräfte wiederum sind Israel feindlich gesinnt und haben wiederholt dazu aufgerufen, den Heiligen Krieg von Damaskus bis zur Befreiung Jerusalems fortzusetzen. Gegenwärtig konzentrieren sich ihre Kräfte allerdings auf den Sturz des Assad-Regimes. Nach dessen Sturz dürfte Israel mit aller Wahrscheinlichkeit für eine Übergangszeit eine militärisch-terroristische Gefahr erwachsen. Diese Phase dürfte durch eine Instabilität der Regierung und einem Mangel an Kontrolle einiger Kampfverbände durch die Zentralgewalt geprägt sein. Die dschihadistischen Kräfte Syriens haben das syrische Waffenarsenal übernommen wie es auch in Libyen nach dem Sturz Gaddafis der Fall war. Dies könnte sich in Zukunft zu einem ernst zu nehmenden Sicherheitsrisiko für westliche Interessen auswachsen.
 
Ein Schlag für den Iran
 
Der Sturz Assads, dem treuen Verbündeten Teherans, wäre ein heftiger Schlag für die iranischen Ambitionen im Nahen Osten und könnte weitere Schockwellen verursachen, die den iranischen Einfluss in der Region weiter schwächen. Dies gilt insbesondere für den libanesischen Schauplatz, wo sich die sunnitischen Kräfte bereits darauf vorbereiten, die Zeit nach der Niederlage des Assad-Regimes zu nutzen, um das politische und militärische Gleichgewicht im Libanon, in dem die Hisbollah gegenwärtig dominiert, zu verändern. Der Kollaps des syrischen Rückzugsgebietes könnte gewalttätige Auseinandersetzungen im Libanon auslösen, die zu einem Bürgerkrieg zwischen radikalen Sunnitengruppen und der Hisbollah führen. Im Irak, der sich seit dem amerikanischen Rückzug zunehmend unter iranischer Dominanz befindet, würden sich die irakischen Sunniten mit aller Wahrscheinlichkeit an ihren sunnitischen Verbündeten im Syrien nach Assad orientieren, um ihre Aufstände gegen die schiitisch geführte Zentralregierung in Bagdad zu erneuern.
 
Gegenwärtig betrachten die syrischen Rebellen den Iran, Russland und China aufgrund ihrer Unterstützung als kriminelle Partner des Assad-Regimes. Dennoch ist es zweifelsohne möglich, dass die Beziehungen langfristig wiederhergestellt werden. Russland hat ein wesentliches Interesse daran, seinen Einfluss in Syrien aufrecht zu erhalten und dürfte recht wahrscheinlich Assad und seine Leute fallen lassen, um sich bei den Rebellen beliebt zu machen. Obschon es eine ideologische Basis für eine Feindschaft der Muslimbrüder mit dem Iran gibt, hat die Bruderschaft doch in der Vergangenheit bewiesen, dass sie den Beziehungen zum Iran höheren strategischen Wert zukommen ließ, selbst als es zu Massakern in Syrien kam – das gemeinsame Interesse besteht im Zurückdrängen eines westlichen Einflusses auf die Region sowie in der Errichtung einer gemeinsamen Front gegen Israel. Diese Erwägungen dürften auch vom neuen syrischen Regime als wesentlich erachtet werden.
 
Machtzentren im Rebellenlager – ein Überblick
 
Dschabhat an-Nusra li Ahl-asch-Scham (Unterstützungsfront für das syrische Volk) oder auch al-Nusra Front ist eine islamistische Organisation, die mit der al-Qaida identifiziert und von Muhammad al-Julani kommandiert wird. Im letzten Jahr hat sie sowohl ihre Ränge als auch ihre Aktivitäten ausgeweitet – bis hin zu Selbstmordattentaten. Die Vereinigten Staaten streben danach, sie auf die Liste terroristischer Organisationen setzen zu lassen.
 
Die Sukur al-Scham-Brigade (Die Falken Großsyriens) sind eine islamistische Organisation unter Führung von Ahmed Issa al-Sheikh und hauptsächlich im Norden Syriens aktiv. Sie operiert mit einer hierarchischen und vereinigten militärischen Struktur und unterhält neun Bataillone in verschiedenen Landesteilen.
 
Die Ahrar al-Scham-Bataillone (Die Freien Großsyriens) sind eine salafistisch-islamistische Organisation, die im Norden Syriens, in der Gegend um Damaskus und der umliegenden Dörfer, sowie im Süden operieren. Ihr Ziel ist die Einführung der Sharia in Syrien.
 
Die Al-Tawhid-Brigaden sind eines islamistische Organisation unter Führung von Abd al-Kadr al-Sadr. Sie sind vorwiegend in der Gegend um Aleppo aktiv und werden mit der Muslimbruderschaft identifiziert.
 
Die Tamoah Ansar al-Islam (Union der Unterstützer des Islam) sind ebenfalls eine salafistisch-islamistische Organisation, die zur Errichtung des Kalifats aufruft. Gegründet im August 2012 vereinigen sie eine Reihe bewaffneter Gruppen, die in der Gegend von Damaskus aktiv sind.
 
Die Al-Farouk-Brigaden sind Salafisten, die im Norden und Zentralsyrien aktiv sind.
 
Im letzten Jahr wurden zwei Dachorganisationen zur Koordination der Rebellentruppen gegründet: die Rebellenfront Syriens sowie die Front zur Befreiung Syriens. Beide sind dominant unter den Islamisten.
 
Anfang Dezember 2012 wurde zudem eine vereinte militärische Führung der Rebellentruppen unter Kommando von Brigadegeneral Salim Idris gebildet. Fünf Kommandobereiche wurden unter dieser neuen militärischen Führung eingerichtet. Ihre deklarierte ideologische Leitlinie beinhaltet die islamische Identität Syriens, sowie Menschen- und Minderheitenrechte. Nur akzeptieren nicht alle Rebellen die Autorität dieser neuen Führung.
 
 
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[1] “Jihadist Rivalry with Mainstream Syria Rebels Intensifies,” AFP, 16. Dez. 2012.
[2] Nazeer Rida, “FSA Targeting al-Assad Regime Airbases-Sources,” Asharq Al-Awsat, 7. Dez. 2012.
[3] Rima Marrouch, “Syrian Rebels Gaining Ground Against Assad’s Air Power,” Los Angeles Times, 11. Dez. 2012.