Konflikt der Erwartungen: Die iranische und die P5+1-Lesart des Genfer Abkommens

Das am 24. November 2013 in Genf zwischen dem Iran und den P5+1-Staaten (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland) unterzeichnete Abkommen hat viele Fragen darüber aufgeworfen, ob es von allen beteiligten Seiten gleichermaßen interpretiert wird. Tatsächlich hat es den Anschein, als würden sich die verschiedenen Parteien nicht auf dasselbe Schriftstück beziehen. Diese Art Verwirrung ist genuiner Teil des iranischen Modus Operandi in seinen Verhandlungen mit dem Westen.

Es ist auch nicht das erste Mal, dass der Iran ein Abkommen mit dem Westen über eine Aussetzung seiner Urananreicherung geschlossen hat. Am 21. Oktober 2003 kam es zwischen dem Iran sowie den EU3 (Frankreich, Großbritannien und Deutschland) zur Teheran-Vereinbarung, in der sich Teheran dazu verpflichtete, „alle Aktivitäten zur Urananreicherung und -wiederaufbereitung auszusetzen.“ Der Chef der damaligen iranischen Delegation war der heutige Präsident Hassan Rouhani, der später stolz verkündete, dass der Iran während der Verhandlungen von 2003 bis 2005 eine neue Atomanlage in Isfahan gebaut habe, wo das das UF6-Ausgangsmaterial für die Gaszentrifugen fabriziert werde. Damit gestand er, dass der Iran die Verhandlungen ausgenutzt hatte, um sein Atomprogramm voranzutreiben.

Im Rückblick erscheint noch etwas anderes an Rouhanis damaligem Agieren bedeutsam. Er bevorzugte es, präzise Rechtsbegriffe zu vermeiden. So bezeichnete er die Teheran-Vereinbarung als rechtlich nicht bindend. Ebenso hielt er bestimmte Angelegenheiten bewusst vage, so z.B. die Definition von „Aussetzung“ im Abkommen. War sie nur eng gefasst zu verstehen, so dass dem Iran lediglich untersagt wäre, das UF6-Gas in die Zentrifugen zu leiten? Oder umfasste sie weiter gefasst Dinge wie die Umwandlung von Uran sowie die Forschung und Entwicklung von neuen Zentrifugen? Zu fragen ist, ob der Iran diesen Verhandlungsstil von 2003 heute fortsetzt.

Aus diesem Grund ist es wichtig, sich genau anzuschauen, wie die Iraner das Genfer Abkommen definieren. Amir Taheri, der ehemalige Redakteur der iranischen Tageszeitung Kayhan, schrieb am 29. November 2013 in Asharq al-Awsat, dass die Parteien sich nicht einmal geeinigt hätten, wie das Dokument von Genf zu bezeichnen sei: als Abkommen oder als Memorandum? Das zeigt sich auch in den Bemerkungen des iranischen Außenministers Mohammed Jarad Zarif im iranischen Fernsehen. Denn wenn das Papier den Iran rechtlich gar nicht verpflichtet, dann ist der Interpretationsspielraum umso größer.

Iran und die Atomverhandlungen: Die Hintergedanken Teherans

Der Iran besitzt bereits alle Komponenten, die zum Bau einer Atombombe gebraucht werden. Eine Lockerung der Sanktionen betrachtet er – selbst wenn er dafür einige Elemente seines offenen Atomprogramms aufgeben muss – als Erfolg und als Grundlage für die weitere Erosion des Sanktionsregimes. Auf der innenpolitischen Ebene wird Rouhani von Khameneis wie der öffentlichen Unterstützung nur ermutigt werden. Schon vor Ablauf der sechsmonatigen Übergangszeit ist es dem iranischen Regime gelungen, die Heimatfront mit Hilfe der Verhandlungen zu stabilisieren – primär das Recht auf Urananreicherungen und die Abschwächung der Sanktionen.

Khameneis zu verschiedenen Gelegenheiten geäußerten Stellungsnahmen, die von hochrangigen iranischen Politikern nachgeahmt werden, vermitteln, dass der Iran die Verhandlungen nicht wirklich braucht und sie vielmehr als innenpolitisches Instrument genutzt werden und als Teil eines umfassenden regionalen Konkurrenzkampfes um Einfluss im Nahen Osten. Die jüngsten Äußerungen setzen die Dehumanisierung Israels als Teil der Regionalstrategie fort, was aber von der internationalen Gemeinschaft zugunsten des „historischen Interimsabkommens“ ignoriert wird.

Aus Khameneis Perspektive stärken die Verhandlungen, auch wenn sie zum Scheitern verurteilt sein mögen, die iranische Position in der Konfrontation mit den Vereinigten Staaten. Verglichen mit seinem Gegenüber ist der Iran in einer völlig anderen Situation, die aus westlicher Perspektive schwer zu verstehen ist. Der Iran kommt nicht aus Schwäche an den Verhandlungstisch, sondern tatsächlich aus einer Position der Stärke. Anstelle irgendetwas bei den Verhandlungen zu verlieren zu haben, kann er nur gewinnen. Der Iran ist sich einer weiteren regionalen und internationalen Perspektive sehr wohl bewusst und seine Entscheidung, sich auf Verhandlungen einzulassen, hat nicht ausschließlich mit der Atomfrage zu tun. Sie spiegelt vielmehr ein ganzes Bündel von regionalen und internationalen Interessen wider, die auf die iranische Einschätzung eines amerikanischen Machtverlustes in der Region treffen und den eigenen ausgreifenden Anspruch.