Israels Doktrin der Verhältnismäßigkeit

Israels Doktrin der Verhältnismäßigkeit

Dr. Dore Gold

Auf die Bilder der Zerstörung, die nach den Kämpfen zwischen der israelischen Armee und der Hamas im Gaza-Viertel Shajaiya, folgte erneut das oft beschworene Mantra, Israel reagiere „unverhältnismäßig“. Während manche Kommentatoren – um mehr Feinsinnigkeit bemüht – ihren Glauben, dass Israel exzessiv vorgehe, zum Ausdruck bringen, sind anderen deutlich in ihrer Anklage, Israel verletze das Kriegsrecht, v.a. die Doktrin der Verhältnismäßigkeit. Diesen substanzlosen Vorwurf gilt es zurückzuweisen.

Shajaiya  ist nicht einfach nur ein Viertel im Gazastreifen, sondern eine Art Kronjuwel im Bemühen der Hamas, Zivilisten und Terroristen derart erfolgreich zu vernetzen, dass Israels Selbstverteidigung massiv erschwert wird. Shajaiya ist durchzogen von einem ausgefeilten Netzwerk aus Untergrundbunkern und Tunneln, die zur Raketenherstellung und -lagerung sowie für andere Waffen benutzt werden, und  Abschussrampen, von denen aus israelische Städte unter Beschuss genommen werden. Die Hamas bevorzugte dieses von Zivilisten bewohnte Gebiet genau deswegen, um eine Verurteilung Israels zu erreichen, sollten die IDF in einen Kampf gegen sie gezwungen werden.

Hinzu kommt, dass eine Reihe von militärischen Angriffstunneln, die direkt nach Israel führten, ihre Eingänge in Shajaiya hatten. Mit Hilfe dieser Tunnel vermochte die Hamas, den Grenzzaun nach Israel zu überwinden, um Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung durchzuführen. In den israelischen Dörfern in Grenznähe wuchs daher die Angst, die Terroristen könnten die Tunnel zur Entführung und Geiselnahme von Kindern nutzen, eine Furcht, die mehr Nahrung erhielt, als Handschellen und Betäubungsmittel in den Tunneln gefunden wurden.

Shajaiya bringt damit das Dilemma Israels im Gaza-Konflikt deutlich zum Ausdruck: Wie kann Israel sich verteidigen, ohne dass es der Unverhältnismäßigkeit bezichtigt wird?

Israel standen im Fall Shajaiya drei Möglichkeiten zur Verfügung. Zunächst hätte es sich entscheiden können, dass es jedes Recht hätte, das Viertel mit weit überlegener militärischer Feuerkraft zu bombardieren und dabei die zivilen Opfer als Kollateralschäden abzutun, so wie es während der alliierten Bombardements im Zweiten Weltkrieg und auch im dreimonatigen Kosovokrieg der NATO 1999 der Fall war, in dem 40 000 Wohnungen zerstört wurden. Die IDF haben diese Option jedoch nicht einmal erwogen.

Dann hätte Israel mit Blick darauf, wie tief sich die Hamas militärisch in zivilem Gebiet eingegraben hatte, entscheiden können, dass es keinerlei Handlungsoptionen geben würde. Dies hätte bedeutet, dass man der Hamas gestattet, ungestraft israelische Ortschaften anzugreifen. Die Hamas hätte so ihre Lizenz zum Töten von Israelis erhalten – etwas, das weder die israelische, noch sonst eine verantwortungsvolle demokratische Regierung hätte gestatten können.

Schließlich entschied sich Israel dafür: Es galt, die Zivilbevölkerung, so gut es geht, von den Hamas-Kämpfern und ihren Waffen zu trennen. Dies hieß, die palästinensische Bevölkerung aus potentiellen Zielgebieten zu evakuieren. So warf man Flugblätter mit Fluchtroutenbeschreibungen ab, unterbrach die Radiosendungen der Hamas, um Warnungen für bestimmte Gebiete auszusprechen, rief auf arabisch die Bewohner an und schickte SMS. Während dieses Zeitraums der Benachrichtigung überwachte eine israelische Drohne das Viertel, um sicher zu stellen, dass die Einwohner das Gebiet verließen.

Gegen diese israelische Bemühung entwickelte die Hamas eine Gegenstrategie, um die Zivilbevölkerung daran zu hindern, den israelischen Warnungen Folge zu leisten. Am 8. Juli  wies der Hamas-Sprecher im Regionalfernsehen die Einwohner Gazas an, als menschliche Schutzschilde gegen die israelischen Luftangriffe zu diesen. Hamas-Aktivisten versuchten, die Zivilisten an der Flucht zu hindern. Und in Erwartung eines Einsatzes israelischer Bodentruppen in Shajyaiya wurden in einer ganzen Reihe von Wohnhäusern Sprengfallen angebracht, um sie über israelischen Soldaten zum Einsturz zu bringen. Auf diese Weise wurden die Schäden noch vergrößert.

Diese verachtenswerte Strategie der Hamas hat offenbar dazu beigetragen, Kollateralschäden und Zerstörung zu verstärken.  Man muss sich auch ins Gedächtnis rufen, dass die Islamistenbewegungen Schule des UN-Flüchtlingswerks als Raketen- und Sprengstofflager verwendet und damit die Schutzpflicht für UN-Einrichtungen vorsätzlich verletzt.

Zudem sollte daran erinnert werden, dass das Völkerrecht dem Begriff der Verhältnismäßigkeit eine ganz bestimmte Bedeutung zugewiesen hat: Er gilt den Erwägungen, vor die sich ein Kommandeur gestellt sieht, ob der militärische Vorteil, der durch den Einsatz von Gewalt erzielt wird, größer ist als die Schädigung der umgebenden Zivilbevölkerung. Wer die „Unverhältnismäßigkeit“ anklagt, muss also genau erklären, auf welche Weise Israel denn die von Shaijaiya ausgehende Terrorgefahr besser und mit weniger Zerstörung hätte neutralisieren können.

Der Krieg zwischen einer umkämpften Demokratie wie Israel und einer Terrororganisation wie der Hamas wird immer gewisse Asymmetrien produzieren. Israel hat massiv in die Verteidigung seiner Zivilbevölkerung investiert, wozu Luftschutzbunker und das Abwehrraketensystem „Iron Dome“ gehören. Doch was genau hat die Hamas mit den Milliarden von Dollarn gemacht, die sie von Unterstützern wie Katar erhalten haben? Sie baute davon Angriffstunnel und leistete sich ein Arsenal von Raketen. Und dennoch gibt es manche, die Israel Absicht in der Verursachung ziviler Opfer unterstellen, weil die Hamas in einem von ihr vom Zaun gebrochenen Krieg mehr Schäden davonträgt angesichts ihrer Bereitschaft, das Leben der Palästinenser für ihre extremistischen Ziele zu opfern.

Die Hamas hat sich sieben Mal geweigert, einen Waffenstillstand durchzusetzen. Ein Wiederaufbau der Infrastruktur in Gaza sollte daher an eine Entmilitarisierung gekoppelt werden, wie sie auch die Vereinigten Staaten und die Europäische Union wollen.

Während sich die Hamas dafür entscheidet, das Leben der Bevölkerung Gazas für ihre extremistischen Ziele zu opfern, wird Israel wie wie üblich für deren Unglück verantwortlich gemacht und der „unverhältnismäßigen“ Reaktion beschuldigt. Dies ist mehr als dreist.