Wie überraschend kam die amerikanische Entscheidung zum Truppenabzug für die Kurden?


Wie überraschend kam die amerikanische Entscheidung zum Truppenabzug für die Kurden?

Col. (ret.) Dr. Jacques Neriah

 

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US-Truppen-Munition beim Verladen in eine C-130 in Kobani, Syrien. 21. Oktober 2019 ((U.S. Army Reserve, Foto: Staff Sgt. Joshua Hammock)(1)

 

 

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Situationsbericht, 23. Oktober 2019, Islamic World News(2)

 

Der von US-Präsident Donald Trump angeordnete Abzug der amerikanischen Truppen aus den von Kurden gehaltenen Gebieten im Nordosten Syriens kam für die Kurden nicht überraschend. Die kurdischen Kräfte hatten seit Mitte Sommer 2019 damit gerechnet und ihre Optionen für den Fall vorbereitet. Überraschend kam hingegen das Timing von Trumps Ankündigung.

Der syrischen Opposition nahestehenden Quellen zufolge, hatten sich die syrischen Kurden unter der Prämisse vorbereitet, dass das Ziel eines türkischen Einmarschs die Übernahme der kurdisch-kontrollierten Gebiete an der türkischen Südgrenze unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung sein würde. Die Türkei hatte vor, die syrische Stadt Aleppo zur Hauptstadt und zum Hauptquartier der Freien Syrischen Armee zu erklären, die von der Türkei gesponsert, bewaffnet und ausgebildet wird. (3)

Die Kurden waren darüber hinaus massiv besorgt über die Erklärungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, er habe vor, drei Millionen syrische Flüchtlinge, die gegenwärtig in der Türkei untergebracht sind, in die von der türkischen Armee "befreiten" Gebiete umzusiedeln. Sein Versprechen konnte von Kurden nur auf eine Weise gedeutet werden: als Politik vorsätzlicher ethnischer Säuberung.

Die gesamte kurdische Bevölkerung Syriens wird auf 2,7 bis 3,5 Mio. geschätzt, wohnt hauptsächlich in großen Städten, mit einer Minderheit in Kleinstädten und Dörfern in Grenznähe zur Türkei, wie z.B. Afrin, Kobani und Manbij. Eine Umsiedlung von drei Millionen Flüchtlingen (arabische Sunniten) ohne Bezug zur kurdischen Ethnie würde die kurdische Mehrheit in diesen grenznahen Gebieten eliminieren, was ganz sicher im türkischen Interesse wäre. Die Zone würde die syrischen Kurden von den türkischen Kurden in der Türkei trennen und die Grenzzone in eine Sicherheitspuffer für Ankara machen, einschließlich einer "Flugverbotszone".

Die Anzeichen waren deutlich: angesichts der Komplexität der amerikanisch-türkischen Beziehungen, der amerikanischen Interessen an dem NATO-Verbündeten, der amerikanischen Militärbasen in der Türkei, der amerikanischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Scheitern der Autonomie der irakischen Kurden und zahlreichen amerikanischen Verlautbarungen eines möglichen Rückzugs aus dem Gebiet "nach der Niederlage des IS" konnten die Kurden ohne weiteres schlussfolgern, dass die Amerikaner das Bündnis mit ihnen als nicht länger benötigt betrachten würde. Ihnen war klar, dass der Tag kommen würde, an dem die Vereinigten Staaten sie der Konfrontation mit den Türken, den Überresten des Islamischen Staates und dem wieder erstarkten syrischen Regime überlassen würden.

Um daher das kurdische Überleben als Nation und politische Kraft im Aufbau eines syrischen Staates nach dem Bürgerkrieg zu sichern, blieb den Kurden keine einzige logische Alternative, als ein Abkommen mit dem Assad-Regime einzugehen. Es musste ausgehandelt werden, dass der Sonderstatus der kurdischen Regionen – immerhin 30 Prozent des syrischen Territoriums – erhalten bliebe. Nachdem die syrischen Truppen das Gebiet 2012 verlassen hatten, wurde es unter Selbstverwaltung gestellt und operierte als unabhängiger Bundesstaat.

Im Februar 2019 zielte eine türkische Militäroperation mit dem Namen "Ölzweig" unterstützt von der Freien Syrischen Armee auf die Stadt Afrin, eine kurdische Stadt im Nordwesten Syriens in Nähe zur türkischen Grenze. Kurdischen Quellen zufolge wurde die Operation von amerikanischer und russischer Seite gebilligt. Dies überzeugte die Kurden und das syrische Regime davon, dass es an der Zeit wäre, Konflikte beizulegen und der türkischen Bedrohung zu widerstehen. Noch während dieser Zeit übergaben im östlichen Teil Aleppos stationierte kurdische Truppen ihre Positionen den syrischen Truppen – zum ersten Mal seit Beginn des Bürgerkriegs.(4)

Obwohl schon in der Vergangenheit Kontakt zwischen Vertretern beider Seiten initiiert worden war und Treffen in Qamishli und Damaskus stattfanden, war es jedoch nie zu einer Lösung der Streitfragen gekommen. Dies änderte sich nun 2019. Die Kurden hatten den Kontakt während der türkischen Operation initiiert und fünf Monate später, am 26. Juli 2019, fand das erste offizielle Treffen einer kurdischen Delegation aus Vertretern des politischen Flügels der Syrischen Demokratischen Kräfte mit dem Regime in Damaskus statt. Das Treffen endete mit einer gemeinsamen Erklärung, dass die Einrichtung eines gemeinsamen Komitees forderte, "um Verhandlungen vorzubereiten, Ideen auszutauschen und einen Fahrplan zu entwerfen, um schließlich ein demokratisches, dezentralisiertes Syrien zu schaffen."

Kurdisch-syrische Kontakte im Juli 2019

Für das syrische Regime stand dabei viel auf dem Spiel, denn hier bot sich eine echte Möglichkeit, Gebiete zurück zu erlangen, ohne mit den Kurden kämpfen zu müssen, die immerhin nahezu dreißig Prozent des syrischen Territoriums kontrolliert hatten. Mit dem Wissen der Vereinigten Staaten, Russlands und der Türkei, die die Situation sehr aufmerksam beobachteten, diskutierten beide Seiten die Zukunft der autonomen kurdischen Gebiete. Ideen wurden vorgelegt, um eine gemeinsame Grundlage zwischen kurdischen Forderungen und dem syrischen Regime, das gerade erst die Kontrolle seiner südlichen Gebiete, die während des Bürgerkriegs verloren gegangen waren, wieder erlangt hatte (Yarmuk, Quneitra und Suweyda). (5)

Die Aufgabe, einen Kompromiss zu finden, war den Kurden bereits auf der Dritten Konferenz des Syrisch-Demokratischen Konzils im Juli 2018 gestellt worden. Dort übernahmen sie die Formel des "Dezentralisierten Demokratischen Syriens" anstatt einer föderalen Lösung, die von vornherein Damaskus genehmer gewesen wäre. Die Kurden gingen von einem positiven Resultat der Verhandlungen über die Zukunft der kurdischen Gebiete nahe der Türkei aus. Riad Darar, dem Ko-Vorsitzenden des Konzils, zufolge, waren die Vereinigten Staaten über die Verhandlungen in Damaskus im Bilde, mischten sich aber nicht in die Entscheidungen des Konzils ein. Die Russen stellten dagegen mehrmals die Gastgeber dieser Treffen, v.a. auf ihrer Militärbasis in Hmeimim. (6)

Der Fakt, dass syrische Regimetruppen, begleitet von russischen Panzern keine drei Tage nach Beginn der türkischen Offensive in die kurdischen Gebiete einmarschierten, zeigt, dass Russen wie Syrer sich logistisch auf dieses Ereignis vorbereitet hatten. Innerhalb weniger Stunden waren sie bereit, Truppen zu entsenden und dem türkischen Einmarsch Stirn zu bieten, was wiederum bedeutet, dass Kurden und Syrer unter russischer Führung und weit weg vom Scheinwerferlicht der Medien eine Lösung der Kurdenfrage in Syrien ausgehandelt hatten.

Die Kurden waren also definitiv nicht von der amerikanischen Entscheidung überrascht worden.

Zu bemerken ist jedoch, dass ohne Trumps Entscheidung und die türkische Offensive das syrische Regime eine beträchtliche Menge Zeit und Energie hätte aufbringen müssen, um die Gesamtheit seines Territoriums zurückzuerlangen. Nun wurde Bashar Assad dies auf einem Silbernen Tablett geliefert – und dies von zwei Feinden, die es am liebsten sehen würden, wenn Assad aus der öffentlichen und politischen Sphäre verschwinden würde. Auf diese Weise hat Trumps Entscheidung, die Kurden im Stich zu lassen, dem ganzen Nahen Osten politisch wie geografisch ein neues Gesicht verpasst mit schwerwiegenden negativen Auswirkungen für die Verbündeten Amerikas in der Region.

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1 https://www.dvidshub.net/image/5853376/syria-movement-operations

2 https://english.iswnews.com/7887/map-latest-military-situation-in-northeast-of-syria-after-turkey-and-russia-agreement/

3 https://www.lebanon24.com/news/world-news/497994/%d8%a3%d9%83%d8%b1%d8%a7%d8%af-%d8%b3%d9%88%d8%b1%d9%8a%d8%a7-%d9%88%d8%a7%d9%84%d8%b9%d9%88%d8%af%d8%a9-%d8%a5%d9%84%d9%89-%d8%ad%d8%b6%d9%86-%d8%a7%d9%84%d9%86%d8%b8%d8%a7%d9%85-%d8%a7%d9%84%d8%ad%d9%83%d9%85-%d8%a7%d9%84%d8%b0%d8%a7%d8%aa%d9%8a-%d9%88%d9%85
1 https://www.dvidshub.net/image/5853376/syria-movement-operations

2 https://english.iswnews.com/7887/map-latest-military-situation-in-northeast-of-syria-after-turkey-and-russia-agreement/

3 https://www.lebanon24.com/news/world-news/497994/%d8%a3%d9%83%d8%b1%d8%a7%d8%af-%d8%b3%d9%88%d8%b1%d9%8a%d8%a7-%d9%88%d8%a7%d9%84%d8%b9%d9%88%d8%af%d8%a9-%d8%a5%d9%84%d9%89-%d8%ad%d8%b6%d9%86-%d8%a7%d9%84%d9%86%d8%b8%d8%a7%d9%85-%d8%a7%d9%84%d8%ad%d9%83%d9%85-%d8%a7%d9%84%d8%b0%d8%a7%d8%aa%d9%8a-%d9%88%d9%85

4https://www.aljazeera.net/news/reportsandinterviews/2018/7/29/%D9%8A%D8%AA%D9%81%D8%A7%D9%88%D8%B6%D9%88%D9%86-%D8%AD%D9%88%D9%84-%D8%A7%D9%84%D9%84%D8%A7%D9%85%D8%B1%D9%83%D8%B2%D9%8A%D8%A9-%D9%83%D9%8A%D9%81-%D8%A7%D9%86%D8%B9%D8%B7%D9%81-%D8%A7%D9%84%D8%A3%D9%83%D8%B1%D8%A7%D8%AF-%D9%86%D8%AD%D9%88-%D8%AF%D9%85%D8%B4%D9%82

5 Ibid

6 Ibid