Obamas Richtungswechsel und die westliche Strategie in der Syrienfrage

Obamas Richtungswechsel und die westliche Strategie in der Syrienfrage

Jonathan D. Halevi

•    Das syrische Regime ist weit schwächer als den meisten Beobachtern bewusst ist. In allen Regionen gelingt es den Rebellen, das Moment für sich zu gewinnen. Die desperate Situation des Regimes zeigt sich in seiner zunehmenden Abhängigkeit von irregulären und Freiwilligenverbänden aus dem Iran, dem Irak und dem Libanon.

•    Sollten die Amerikaner eingreifen, dann wäre von den islamistischen Rebellen keine Dankbarkeit zu erwarten, die es als Versuch einer imperialen Macht wahrnehmen werden, ihre Eigeninteressen in der Region und als Beistand für Israel durchzusetzen. Sollten die Amerikaner dagegen nichts unternehmen, dann wird ihnen vorgeworfen werden, Völkermord gestattet und das Assad-Regime ermutigt zu haben.

•    Ein begrenzter Militärschlag hätte sehr wohl seine Vorteile. Auf diese Weise wird das syrische Regime gezwungen, sich zu bewegen, doch auch die Rebellen erhalten Antrieb, den militärischen Druck zu erhöhen, ohne dass eine ausländische Intervention von Nöten ist.

•    Die wirkliche Herausforderung für die Amerikaner besteht allerdings in der Frage ihrer Fähigkeit, den Ausgang des Konfliktes so zu beeinflussen, dass am Ende Assad durch eine verantwortliche Führung ersetzt wird, die das Chaos ebenso zu verhindern vermag wie die Übernahme des Chemiewaffenarsenals durch Terrororganisationen.

Das Dilemma des Westens

Der amerikanische Präsident Barack Obama hat eine militärische Bestrafungsaktion gegen das Assad-Regime verschoben. Das amerikanische Handlungsvermögen in Syrien hängt nun v.a. an der Fähigkeit Obamas, zuhause und international Legitimation zu erwerben, was alles andere als gewährleistet ist.

Die amerikanische Unschlüssigkeit spiegelt das westliche Dilemma gegenüber dem Bürgerkrieg in Syrien wider, wo das Alawitenregime Assads unterstützt vom schiitischen Iran gegen eine Rebellenkoalition kämpft, die von islamistischen Elementen, u.a. Al-Qaida, dominiert wird.

Das Assad-Regime hat dabei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt, die auf Völkermord hinauslaufen. Gleiches gilt aber auch für Rebellentruppen, deren Führer einen Völkermord an der alawitischen Minderheit unterstützen würden, sollte das Regime irgendwann stürzen.

Der moralische Sinn des Westens, auf den Giftgaseinsatz des Assad-Regimes zu reagieren, stößt dabei auf die realistische Einschätzung des „Tags danach“ und die Angst, man könnte so den radikalen Islamisten zu einer Machtergreifung (inklusive der über das Chemiewaffenarsenal) verhelfen, was nur zu weiteren Kriegsverbrechen führen würde. Mit anderen Worten, es besteht keinerlei Garantie, dass ein amerikanischer Militärschlag die Verbrechen beenden, und nicht nur wahrscheinlich das Machtgefüge von einem Despoten zum nächsten verschieben würde.

Syrische Angst vor US-Militärschlag

Offiziell gibt die syrische Führung vor, sie sähe die amerikanische Politik als unentschlossen und schwach. Doch hinter dem dichten Propaganda-Nebel fürchtet das Regime ein militärisches Eingreifen der Amerikaner im Wissen, dass jenes sich auf eine Ausschaltung der syrischen Luftwaffe, militärischer Hauptquartiere, Boden-Boden-Waffen und das Chemiewaffenarsenal konzentrieren würde.

Ein amerikanischer Militärschlag würde die Auflösungserscheinungen der syrischen Armee beschleunigen, die in den letzten zweieinhalb Jahren enorme Verluste und das Überlaufen von Tausenden Offizieren und Soldaten zu den Rebellen hinnehmen musste. Die desperate Situation des Regimes zeigt sich in seiner zunehmenden Abhängigkeit von irregulären und Freiwilligenverbänden aus dem Iran, dem Irak und dem Libanon.

Assad selbst behauptete zwar jüngst im Figaro: „Ich kann mit Zuversicht erklären, dass die Lage vor Ort weit besser ist, als zuvor,“ doch die Frage bleibt, ob dies tatsächlich von der syrischen Elite geglaubt wird.

Syrisches Regime weit schwächer als es scheint

Trotz des zur Schau gestellten Selbstbewusstseins, legt die Lage vor Ort anderes nahe. Die syrische Armee vermochte vor einigen Monaten, auf dem Schlachtfeld von al-Qsair und Homs einige taktische Fortschritte zu erzielen, doch seitdem hat sich das Blatt gewendet und den Rebellen ermöglicht, fortgesetzt in allen Regionen das Moment für sich zu gewinnen. Ein amerikanischer Militärschlag würde somit ein weit schwächeres Regime treffen, als es den meisten Beobachtern bewusst ist.

In den letzten Wochen haben die Rebellen zwei strategisch wichtige Ortschaften – Khanser und Ariha – erobert, ein Manöver, das darauf abzielt, die Nachschubroute für die in Aleppo und Idlib belagerten syrischen Regimetruppen abzuschneiden. Gleichzeitig setzt sich der militärische Angriff der Rebellen in Latakia und den Dörfern rings um Damaskus fort. Vorhandenes Videomaterial zeugt von der niedrigen Moral der syrischen Soldaten und den erfolgreichen Schlägen der Rebellen gegen die Waffen des Regimes.

Islamistische Opposition gegen eine amerikanische Intervention

Radikale islamistische Gruppen, u.a. jene, die mit Al-Qaida identifiziert werden, lehnen ein amerikanisches Eingreifen rundweg ab und sehen es als Versuch einer imperialen Macht, ihre Eigeninteressen in der Region und als Beistand für Israel durchzusetzen, was ultimativ als ein Angriff gegen die Gotteskrieger verstanden wird.

In einer offiziellen Stellungnahme der Muslimbruderschaft erklärte jene, dass sie sich gegen jegliche militärische Strafaktion gegen Syrien verwahre, da diese ungewollte Konsequenzen nach sich ziehen und das Assad-Regime stärken würde. Die Muslimbrüder fordern stattdessen eine Flugverbotszone und die Einrichtung von Schutzzonen für die Zivilbevölkerung sowie die Lieferung hochwertiger Waffen an die Aufständischen.

Die vor drei Jahrzehnten in Syrien verbotenen Muslimbrüder geben sich beträchtliche Mühe, innerhalb der syrischen Oppositionskräfte eine organisatorische Infrastruktur aufzubauen, die es ihr ermöglichen soll, die Führung zu übernehmen und im Falle eines Sieges über Assad Schlüsselpositionen zu besetzen.

Im August 2013 eröffnete die Bruderschaft ihr offizielles Büro in Aleppo und begann das Komitee für Zivilschutz zu unterstützen, das von verschiedenen Seiten als militärischer Flügel der Muslimbrüder bezeichnet wird. Dies hat sich als wirksames Mittel zu einer islamistischen Infiltration der Freien Syrischen Armee (FSA) erwiesen. Indem die Bruderschaft ihre Bataillone als Komitee für Zivilschutz der FSA unterstellt, stellt sie ihr strategisches Denken unter Beweis. Im Unterschied zu den Al-Qaida nahestehenden Organisationen versucht sie so, innerhalb der die Rebellen offiziell vertretenden Gruppe (FSA, Koalition, Nationalrat) die Kontrolle zu übernehmen, um so internationale Anerkennung zu mobilisieren und ihre politische Agenda, Damaskus zu erobern, zu fördern.

Szenarien für den „Tag danach“

Angesichts des Fehlens bedeutender liberaler und säkularer Oppositionskräfte scheinen alle Szenarien für den „Tag danach“ zwischen einem Genozid der alawitischen Minderheit, Chaos und Desintegration des syrischen Staates entlang ethnischer Linien oder einer Machtübernahme durch radikale Islamisten und der Etablierung einer islamischen Gottesstaates zu verlaufen.

Einem amerikanischen Militärschlag fehlt im Wesentlichen die Unterstützung durch Rebellen und Arabische Liga. Beim Treffen der Außenminister der Liga am 1. September in Kairo wurde lediglich eine allgemeine Erklärung verabschiedet, die die internationale Gemeinschaft dazu aufrief, alle „notwendigen und abschreckenden Maßnahmen gegen die Verursacher von Kriegsverbrechen“ zu ergreifen.

Die Amerikaner dürften in all den wahrscheinlichen Szenarien den Schaden davon tragen. Sollten die Amerikaner eingreifen, dann wäre von den islamistischen Rebellen keine Dankbarkeit zu erwarten, die darin eine imperialistische Intervention aus Eigeninteresse und zur Unterstützung Israels sehen. Sollten sie dagegen nichts unternehmen, dann wird ihnen vorgeworfen werden, Völkermord gestattet und das Assad-Regime ermutigt zu haben.

Zusätzlich riskieren die USA eine Ausweitung des Konfliktes in andere Regionen des Nahen Ostens verursacht von Syrien, Iran und ihren Alliierten. Dazu gehören Terroranschläge und der Beginn eines Raketenkrieges gegen Israel.

Das oberste Ziel der amerikanischen Regierung ist gegenwärtig eine Kontrolle des syrischen Chemiewaffenarsenals, des letzten Strohhalms des Assad-Regimes. Diesem muss die oberste Priorität zukommen.

Angesichts dieser Aussichten und der Abwesenheit einer breiten internationalen Koalition (denn Großbritannien wird sich nicht beteiligen und Russland und China unterstützen das Regime), folgt die US-Regierung einen mittleren Weg, mit der Androhung, dass eingegriffen wird, sollten Chemiewaffen eingesetzt werden, eine umfassendere militärische Intervention mit dem Ziel eines Sturzes Assads aber nicht erfolgen wird.

Ein begrenzter Militärschlag hätte sehr wohl seine Vorteile. Auf diese Weise wird das syrische Regime gezwungen, sich zu bewegen, doch auch die Rebellen erhalten Antrieb, den militärischen Druck zu erhöhen, ohne dass eine ausländische Intervention von Nöten ist.

Der Westen muss den Einsatz von militärischer Gewalt sorgsam erwägen und mit einem gut definierten Sinn für die strategischen Ziele abgleichen. Die wirkliche Herausforderung für die Amerikaner besteht allerdings nicht auf dem Schlachtfeld, wo sie einen überwältigenden Vorteil haben, sondern in der Frage ihrer Fähigkeit, den Ausgang des Konfliktes so zu beeinflussen, dass am Ende Assad durch eine verantwortliche Führung ersetzt wird, die das Chaos ebenso zu verhindern vermag wie die Übernahme des Chemiewaffenarsenals durch Terrororganisationen.