Iran, Hisbollah, Hamas und der globale Dschihad: Ein neues Konflikt-Paradigma für den Westen

Im Nahen Osten haben sich in den letzten Jahren revolutionäre Veränderungen vollzogen, welche es erfordern, dass die zahlreichen Probleme der Region sowie deren Lösungsansätze neu eingeschätzt werden. Während eines Großteils der Neunzigerjahre war die konventionelle Meinung, dass der Schlüssel zu regionaler Stabilität in der Lösung des arabisch-israelischen Konfliktes zu finden sei. In der Konsequenz konzentrierten sich die diplomatischen Energien des Westens auf dieses Gebiet. Darüber hinaus erschien der arabisch-israelische Konflikt entsprechend dieses traditionellen Paradigmas in einem relativ kurzen Zeitrahmen leicht lösbar. Mit Hilfe diplomatischer Bemühungen sollte es – so die Hoffnung – nach einigen Jahren möglich sein, ein regionales Friedensabkommen  zwischen Israel, den Palästinensern und den arabischen Staaten abzuschließen.

In der Folgezeit des „Krieges gegen den Terrorismus“, welcher in den letzten Monaten von 2001 begann, stieg die Bedeutung neuer Faktoren in der Politik des Nahen Ostens. So ist beispielsweise offensichtlich, dass der militant-islamische Radikalismus, welcher organisatorisch von al-Quaida in Afghanistan angeführt wurde, nach dem Sturz des Talibanregimes viele seiner Hauptzentren in den Nahen Osten verlegt hat. Dies war besonders in der Gegend des westlichen Irak und in verschiedenen Nachbarländern zu beobachten. Folglich ist es zunehmend schwerer zu vertreten, dass der arabisch-israelische Konflikt die Hauptursache der regionalen Instabilität sei. Vielmehr konnten die unmittelbaren historischen Wurzeln des radikalen Islam auf zwei Ereignisse zurückgeführt werden, die mit dem arabisch-israelischen Konflikt nichts zu tun haben: der islamischen Revolution im Iran 1979 und der Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan 1989, welche al-Quaida hervorbrachte.

Mit dem Sieg der Hamas bei den Parlamentswahlen in der Palästinensischen Autonomiebehörde in 2006 gewann der radikale Islam an Stärke unter den Palästinensern. Dies war das erste Mal, dass ein Zweig der Muslimbruderschaft Macht im Zentrum des Nahen Ostens erobern konnte. Die Feindseligkeit der Hamas gegen Israel kann nicht durch Diplomatie oder die Mittel eines fairen territorialen Kompromisses reduziert werden. Hamas und ihre Verbündeten lehnen Verhandlungslösungen des arabisch-israelischen Konfliktes ab und positionieren sich auf Seiten der Jihadi-Organisationen der Region. Damit ist der arabisch-israelische Konflikt zunehmend Teil des weit größeren Konfliktes zwischen radikalem Islam und dem Westen geworden.

Mit der Entstehung eines erstmalig schiitisch dominierten Irak sah die Islamische Republik Iran die historische Gelegenheit, sich nun als Hegemonialmacht im gesamten Nahen Osten zu etablieren, ihren Einfluss auf die benachbarten schiitischen Bevölkerungsteile zu projezieren und dabei über die Köpfe der gegenwärtigen Regierungen hinweg auf die sunnitische „Arabische Straße“ auszugreifen. Um westliche Versuche zu neutralisieren, welche dieses Streben nach regionaler Hegemonie verhindern wollen, ist Iran bereit, alle Risiken in Kauf zu nehmen bei der Entwicklung eines eigenständigen militärischen Nuklearprogramms sowie von Langstreckenraketensystemen, welche in kurzer Zeit eine Bedrohung Westeuropas und schließlich der US sein könnten. Durch die stetige Verstärkung seiner Seestreitkräfte beabsichtigt der Iran, die Fähigkeit zu erwerben, den Persischen Golf und die Energiequellen sowohl des Westens als auch der wachsenden asiatischen Ökonomien zu dominieren.
Irans Entschlossenheit, diese strategischen Fähigkeiten zu erwerben, wurde erleichtert durch das stabile Wachstum der jährlichen Einkünfte aus dem Ölgeschäft seit 2003. Zudem wurde eine neue Priorisierung möglich. Während Iran viel in sein Raketen- und Seestreitkräfteprogramm investiert, wendet er relativ wenig für Luft- und Bodentruppen auf, was durch den Niedergang der primären Bodengefahr möglich wurde, mit der der Iran traditionell vom Irak an seiner West- und vom radikalsunnitischen Talibanregime in Afghanistan an seiner Ostgrenze konfrontiert wurde.

Das iranische Streben nach neuem Großmachtstatus wird angetrieben durch die ideologische Orientierung seines Präsidenten, Mahmoud Ahmadinejad, welcher die Energien der ursprünglichen islamischen Revolution von 1979 wiederbelebt hat. Er betonte seinen festen Glauben an ein kommendes apokalyptisches Szenario der Schiiten und scheint dementsprechend nicht beeinflusst von jenem Abschreckungsgedanken, welcher die Planungen der Supermächte während des Kalten Krieges prägte. Ahmedinejad hat eine Regierung aus ehemaligen Mitstreitern der Islamischen Revolutionsgarden zusammengestellt. Das Revolutionsgardenkorps – und insbesondere die al-Quds-Brigaden– sind ein wesentliches Instrument gewesen bei der Verbreitung des politisch-militärischen Einflusses des Iran über den gesamten Nahen Osten, vom Libanon bis zum Sudan, und jüngstens im Irak.

Es wäre ein Kardinalfehler, das Anwachsen von schiitischer und sunnitischer Militanz als zwei völlig getrennte Entwicklungen zu betrachten, welche sich weder beeinflussen noch zusammengehen könnten. Der Iran versuchte in den Neunzigerjahren, seinen Einfluss auf das islamistische Regime in Sudan auszudehnen. Er hat sunnitische Organisationen wie den palästinensischen Islamischen Dschihad seit Jahren unterstützt und beginnt sich nun als wichtigste Förderquelle der Hamas zu etablieren. Die 9/11-Kommission hat die Details der Zusammenarbeit zwischen Iran und al-Quaida beschrieben. Abu Musab al-Zarqawi, der Schlächter irakischer Schiiten während des Aufstandes, erhielt Unterschlupf und Unterstützung durch das iranische Regime als er Afghanistan nach dem Sturz der Taliban evakuierte. Um eine Führungsrolle in der islamischen Welt zu übernehmen, muss der Iran über die schiitischen Gemeinschaften hinausgreifen, welche nur 15 Prozent aller Muslime umfasst, und sich mit sunnitischen Bewegungen verbünden.

Während der Iran jedoch versucht, größeren Einfluss in den sunnitisch dominierten Staaten zu erlangen, hat der Irak-Krieg die sunnitisch-schiitischen Spannungen im ganzen Nahen Osten verschärft, so dass sunnitische Führer wie der jordanische König Abdullah nun offen über die Gefahren eines schiitischen Halbmondes sprechen, welcher das Zentrum des Nahen Ostens einzukreisen droht. In der Erwartung eines Abzugs der US-Truppen aus dem Irak hat die saudi-arabische Führung ihre Sorgen darüber geäußert, dass die irakischen Schiiten mit iranischer Unterstützung im Irak ethnischen Säuberungen gegen die sunnitische Minderheit durchführen könnten.

Folglich wird die sunnitisch-schiitische Rivalität in den kommenden Jahren mit aller Wahrscheinlichkeit zu der zentralen Konfliktachse im Nahen Osten werden. Dieser neue strategische Kontext gibt den Vereinigten Staaten sowie ihren westlichen Alliierten enormes Einflusspotential bei den bedrohten sunnitisch-arabischen Staaten. Dementsprechend muss der Westen ihre Kooperation nicht auf Kosten Israels gewinnen. Darüber hinaus sollte Saudi-Arabiens fortgesetzte Unterstützung radikaler Jihadi-Bewegungen sorgsam beobachtet und angesprochen werden.

Es ist auffallend, dass viele politisch Verantwortliche des Westens weiterhin an den Ideen der Stabilisierung des Nahen Ostens festhängen, welche vor mehr als einem Jahrzehnt unter völlig verschiedenen regionalen Bedingungen entwickelt wurden, während diese revolutionären Veränderungen immer offenkundiger werden. Dieses Problem war besonders deutlich zu spüren bei dem Bericht der Irak-Studiengruppe unter dem Vorsitz von James Baker und Lee Hamilton, welcher versuchte, Iran (als auch seinem Verbündeten Syrien) entgegenzukommen und den Druck auf Israel zu erhöhen, einen Ausgleich mit seinen radikalsten Nachbarn anzustreben.

Aus der folgenden Analyse ergeben sich neue Prinzipien für die westliche Politik, welche den neuen Realitäten des Nahen Ostens gerecht werden:

1.    Iran ist entschlossener denn je, regionale Hegemonie durch die Verbreitung regionaler Instabilität in der ganzen Region zu erzielen. Es ist ein Kardinalfehler des Westens zu glauben, dass Iran in eine Status-Quo-Macht verwandelt werden kann, indem man auf eine Reihe politischer Beschwerden, die das Regime äußert, eingeht. Irans vergangene Rolle in den von der UN initiierten „Sechs-plus-Zwei“ Verhandlungen über Afghanistan (mit den Vereinigten Staaten, Russland, und den Nachbarstaaten Afghanistans) während der Präsidentschaft Khatamis ist nicht vergleichbar mit der Rolle, die Iran unter Ahmedinejad und seiner zweiten islamischen Revolution im Irak zu spielen beabsichtigt. Im Fall Afghanistan hatte Iran ein Interesse an der Eindämmung eines radikalsunnitischen Staates unter den Taliban, wo die Schiiten nur eine Minderheit waren. Im Fall des Irak, droht Iran jedoch im Gegensatz, ein Land mit schiitischer Mehrheit zu dominieren. In beiden Fällen hinderten jedoch Irans begrenzte Kontakte mit dem Westen nach 2001 die iranische Führung nicht daran, Elementen von al-Quaida Schutz zu gewähren.

2.    Die Hauptbedrohung der sunnitisch-arabischen Staaten geht deutlich vom Iran aus. Der verbleibende arabisch-israelische Konflikt ist für diese Staaten nicht mehr zentral und stattdessen an die zweite und dritte Stelle gerückt. Tatsächlich scheinen Israel und die sunnitisch-arabischen Staaten einige Bedrohungen gleich wahrzunehmen. Der daraus resultierenden Zusammenfall ihrer Sicherheitsinteressen mag nicht ausreichend sein, um einen diplomatischen Durchbruch im Friedensprozess zu erzielen, wo zwischen Israelis und Palästinensern große Differenzen in allen Kernfragen bestehen, doch er vermag vielleicht Verhandlungen auf unterer Ebene zwischen Israel und seinen Nachbarn gewährleisten, wie den gemeinsamen Gefahren begegnet werden kann.

3.    Es existiert keine kurzfristige diplomatische Option, um den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen. Solange die gegenwärtige Welle des radikalen Islam anhält und erfolgreich die palästinensische Politik dominiert, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass israelisch-palästinensische Verhandlungen langfristige Übereinkünfte erzielen werden. Weitere unilaterale Abzüge Israels bei gleichzeitiger Abwesenheit eines palästinensischen Verhandlungspartners werden die Dominanz radikalen Islams in der palästinensischen Gesellschaft stärken und den Erfolg des radikalen Islams in der Region rechtfertigen. Dies war das Resultat des Gaza-Abkoppelungsplans vom August 2005.

4.    Eine Stabilisierung des Nahen Ostens verlangt die Neutralisierung jeglicher Elemente der gegenwärtigen Welle radikalen Islams. In diesem Sinne ist es irrelevant, ob sunnitische oder schiitische Organisationen geschlagen werden, denn das Versagen eines dieser Elemente in der gegenwärtigen Welle wird die anderen ebenfalls schwächen. Eine Niederlage der Hamas oder der Hisbollah im Libanon würde einen enormen Rückschlag für den Iran bedeuten. Zur Zeit ist Ahmedinejads Iran die Hauptquelle für die regionale Instabilität im Nahen Osten, sowohl direkt als auch indirekt durch die Stellvertreterorganisationen, die er unterstützt.

5.    Israel hat ein fortgesetztes Bedürfnis nach verteidigungsfähigen Grenzen. Mit dem Anwachsen der Fähigkeiten sunnitischer und schiitischer Terroristen rings um Israel ist der Nahe Osten eine gefährlichere Region geworden. Abschreckung dieser Organisationen mag schwierig geworden sein. Wenn Israel genötigt würde unter solchen Bedingungen das Jordantal abzutreten, dann würde es sich gesteigerter Infiltration des strategisch wichtigen Westjordanlandes mit Waffen, ausländischem Geld und schließlich Freiwilligen aussetzen. Das Resultat wäre eine ähnliche Erfahrung für Israel wie mit der Philadelphi-Passage zwischen Gaza und Ägypten nach dem israelischen Abzug aus Gaza. Gleichzeitig würde das resultierende Sicherheitsvakuum zunehmend Jihadi-Gruppen aus Jordanien anziehen und damit die Stabilität des haschemitischen Königreichs sowie auch schließlich der ganzen Region unterminieren.