Der Mythos illegaler Siedlungen

Der Mythos illegaler Siedlungen
 
David M. Phillips
 
erschienen in
Commentary
Dezember 2009
 
 
Die Auffassung, dass die jüdischen Siedlungen im Westjordanland illegal wären, ist gegenwärtig allgemein so akzeptiert, dass es kaum den Anschein hat, dass über diese Frage Diskussionsbedarf besteht. Doch dem ist nicht so. Jahrzehnte des Streits über das Problem haben die komplexe Natur dieser sehr spezifischen juristischen Angelegenheit verdunkelt, so dass ein vermutlich überwältigender Schuldspruch gegen die Siedlungspolitik verhängt wird. Zweifelsohne ist dieses Übermaß an negativer Meinung sehr stark von der mangelnden Popularität der Siedlungen in der ganzen Welt, aber auch in Israel selbst, beeinflusst worden. Doch wenn man sich auch über die Weisheit Israels, Siedlungen zu bauen, streiten kann, so ist doch die Ansicht, dass dies unüberlegt gewesen sei, etwas deutlich anderes, als es als illegal zu brandmarken. Tatsächlich basiert eine Analyse, die zu dem Schluss führt, die Siedlungen würden das Völkerrecht verletzen, auf der Akzeptanz des palästinensischen Narrativs, dass die Westbank „arabisches“ Land sei. Folgt man dieser Argumentation logisch zu Ende – wie es einige getan haben – dann macht dieses Narrativ auch die Legitimität Israels zunichte.
 
Der Streit geht zurück auf die Folgezeit des Sechstagekrieges. Israels Absichten waren bei Kriegsausbruch im Juni 1967 klar: die Beseitigung der militärische Bedrohung seiner Existenz durch die arabischen Länder. Doch nach seinem Sieg stand der jüdische Staat vor einer weiteren Herausforderung – wie sollte er mit den territorialen Gewinnen verfahren. Obwohl viele Israelis annahmen, ihr überwältigender Sieg hätte die arabische Welt derart geschockt, dass sie sich endlich mit der Legitimität Israels abfinden und Frieden schließen würden, sahen sie sich doch in diesem Glauben bald enttäuscht. Ende August 1967 trafen sich die Staatsoberhäupter von acht Ländern – unter ihnen Ägypten, Syrien und Jordanien, welche alle in ihrer gescheiterten Konfrontationspolitik gegen Israel Land eingebüßt hatten – zum Gipfel in Khartum und einigten sich auf die drei Prinzipien, die die arabische Nachkriegspolitik festlegten: kein Frieden mit Israel, keine Anerkennung Israels und keine Verhandlungen mit Israel. Viele Israelis hatten gehofft, dass sie den Großteil des eroberten Territoriums, wenn nicht gar alles, für Frieden eintauschen könnten, nur fand sich nun kein Abnehmer dafür. Auf diese Weise wurde die Bühne frei für die jahrzehntelange Kontrolle der Gebiete durch Israel.
 
Die tiefe Bindung vieler Israelis an die nunmehr vereinte Stadt Jerusalem führte zu ihrer zügigen Annexion. Jüdische Stadteile entstanden an ihrer Peripherie in der Hoffnung, dass die Vereinigung auf diese Weise irreversibel gemacht werden würde. Eine ähnliche Motivation – jüdisches Leben in das Westjordanland zu tragen, wo die jüdische Geschichte ihren Ursprung nahm – führte zu einem sporadischen Siedlungsprozess, der innerhalb der kommenden Jahrzehnte eine ganze Reihe von Siedlungen in diesem Gebiet entstehen ließ aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher Gründe – u.a. aus strategischen, historischen und/oder religiösen Erwägungen. Im Gegensatz dazu waren die israelischen Siedlungen auf dem ägyptischen Sinai und dem syrischen Golan hauptsächlich von dem strategischen Wert der Territorien motiviert.
 
In den Folgejahren bestand relatives Einvernehmen über die souveränen Rechte Ägyptens am Sinai, so dass er schließlich an Ägypten zurückgegeben wurde, nachdem Nassers Nachfolger Anwar Sadat aus dem arabischen Konsens ausscherte und Frieden mit Israel schloss. Obwohl die syrischen Machthaber bis zum heutigen Zeitpunkt den Kriegszustand einer ähnlichen Entscheidung zur Konfliktbeendigung vorziehen, so hängt doch die Frage ihres Rechts, den Golan im Friedensfall zurückzubekommen, eher an dem Wesen des Regimes in Damaskus als an der Frage des syrischen Anspruchs auf das Gebiet.
 
Die Frage nach dem völkerrechtlichen Status von Westjordanland und Jerusalem lässt sich leider nicht derart leicht beantworten. Um dies zu erklären müssen wir uns zunächst der Geschichte der Region im 20. Jahrhundert widmen.
 
Auch wenn dieses Gebiet heutzutage häufig als „palästinensisches“ Land bezeichnet wird, so waren doch zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte Jerusalem oder das Westjordanland unter palästinensisch-arabischer Souveränität. Für die Jahrhunderte vor dem Ersten Weltkrieg stellten das heutige Israel, das heutige Königreich Jordanien sowie der mutmaßliche palästinensische Staat lediglich Provinzen des Osmanischen Reiches dar. Nachdem von den Briten geführte alliierte Truppen die Türken von diesem Gebiet 1917-1918 vertrieben hatten, segnete der Völkerbund die britische Besatzung durch ein Dokument ab, das den Briten eine durch ein Mandat begrenzte Kontrolle verlieh. Damit wurden die Briten ermächtigt, eine „jüdische Heimstatt“ unter Respektierung der Rechte der arabischen Bevölkerung  zu errichten. Der britische Kolonialsekretär Winston Churchill teilte dieses Mandat später und gab im Jahr 1922 das ostjordanische Gebiet den mit den Briten verbündeten haschemitischen Arabern, welche unter britischer Vormundschaft das Königreich Jordanien gründeten.
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg stimmten die Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes im November 1947 dafür, das verbleibende Territorium in einen arabischen und einen jüdischen Staat zu teilen. Während die Juden die Teilung akzeptierten, lehnten die Araber dies ab und so verbündete sich nach dem Abzug der Briten im Mai 1948 Jordanien mit vier weiteren arabischen Staaten um in den frisch gegründeten Staat Israel am ersten Tag seiner Existenz einzufallen. Obwohl Israel diesen Angriff überstand, gelangten die Jordanier in den Besitz dessen, was später als Westbank bekannt werden sollte, sowie halb Jerusalems, einschließlich der Altstadt. Die jüdischen Siedlungen im Westjordanland, die vor der arabischen Invasion existiert hatten, wurden zerstört, ebenso das jüdische Viertel in der Jerusalemer Altstadt.
 
Nachdem der israelische Unabhängigkeitskrieg 1948 mit einem Waffenstillstand beendet wurde, annektierte Jordanien sowohl die Westbank als auch Ostjerusalem. Doch ähnlich wie 19 Jahre später, als Israel die gleichen Teile der Stadt zurückeroberte, ignorierte die Welt weitestgehend diesen Versuch Jordaniens, seine Anwesenheit dort zu legitimieren. Nur die beiden jordanischen Alliierten Großbritannien wie Pakistan erkannten den jordanischen Anspruch auf dortige Souveränität an. Durch die katastrophale Entscheidung König Husseins, sich im Vorfeld des Sechstagekrieges mit Ägyptens Nasser zu verbünden, wurde Jordanien aus den 1948 eroberten Gebieten 1967 wieder vertrieben.
 
Damit stellte sich die Frage nach der souveränen Autorität im Westjordanland. Das legale Vakuum, in dem Israel in der Westbank nach 1967 operierte, wurde durch die hartnäckige Weigerung Jordaniens, sich an Gesprächen über diese Gebiete zu beteiligen, verschärft. König Hussein wurde anfänglich durch die „drei Neins“ von Khartum von einer Auseinandersetzung mit der Thematik abgeschreckt. Doch schnell genug ereilte ihn die Realität in Form einer ihm von der PLO erteilten Lektion. Die palästinensische Befreiungsbewegung entfachte 1970 einen blutigen Bürgerkrieg gegen Hussein und sein Regime. Mit der offenen Unterstützung Israels gelang es Hussein zwar die Bedrohung seiner Herrschaft zu überleben, doch sein Wunsch, die palästinensische Bevölkerung seines Königreichs nun eher zu reduzieren als zu vermehren, führte dazu, dass er jegliche Ansprüche auf die 1967 verlorenen Gebiete aufgab. Diese Haltung wurde schließlich am 31. Juli 1988 formalisiert.
 
Der Vorwurf gegen Israel, dass es die Gebiete illegal durch Raub seinen einstigen Eigentümern entrissen habe, hat also durch die ursprüngliche Illegitimität des jordanischen Rechtsanspruches gefolgt von dem Rückzug Jordaniens aus der Streitsache, rechtlich keinen Bestand. Lange vor der jordanischen Aufgabe dieses Anspruches argumentierte Eugene Rostow, ehemaliger Dekan der juristischen Fakultät Yale und Unterstaatssekretär für politische Angelegenheiten, dass die Westbank als einstiger Teil des Osmanischen Reiches als „Territorium ohne Zugehörigkeit“ betrachtet werden solle. Aus dieser Perspektive hätte Israel anstelle des Status eines „kriegführenden Besatzers“ den eines „Anwärters auf das Territorium.“
 
Nach Rostows Meinung hätten „die Juden … aufgrund des Mandats das Recht, dort zu siedeln“ – ein Recht, das er zu einer „unumstößlichen juristischen Angelegenheit“ erklärte. In Übereinstimmung mit diesen Ansichten hat Israel in Laufe der Geschichte das Westjordanland als „umstrittene Gebiete“ bezeichnet (auch wenn einige hochrangige Regierungsvertreter in jüngster Zeit den Begriff „besetzte Gebiete“ zu verwenden begonnen haben).
 
Da weder Großbritannien als vormaliger Treuhänder unter dem Mandat des Völkerbundes, noch das seit damals verblichene Osmanische Reich – als die Jordanien vorangegangenen Souveräne des Gebiets – die Absicht oder die Fähigkeit haben, als Klägerpartei Israel zur Rechenschaft zu ziehen, müssen wir uns die Frage stellen: Auf welcher rechtlichen Grundlage steht die Klage gegen Israel?
 
Die völkerrechtlichen Einwände gegen die israelischen Siedlungen beziehen sich im Wesentlichen auf zwei Quellen. Die erste sind die Haager Konventionen von 1907, deren Regelwerk die Rechte eines durch kurzzeitige Besetzung entmachteten Souveräns zu wahren beabsichtigt. Die zweite ist die Vierte Genfer Konvention von 1948, dem ersten internationalen Abkommen, das den Schutz von Zivilisten in Kriegszeiten bestimmt.
 
Obwohl Israel zu keinem Zeitpunkt Rechtspartei der Haager Konventionen war, betrachtet das Oberste Gericht Israels diese Vorkehrungen als Teil des gewohnheitsmäßigen Völkerrechts (d.h. als Recht, das auch von jenen Nationen respektiert wird, die die diesbezüglichen internationalen Vereinbarungen nicht unterzeichnet haben) und damit auch als für Israel verbindlich. Die Vorkehrungen beziehen sich für alle einsichtig auf kurzzeitige Besetzungen für den Zeitraum, in dem ein Friedensvertrag zwischen der siegreichen und der besiegten Nation ausgehandelt wird. Die „drei Neins“ von Khartum signalisierten jedoch, dass es keine baldigen Verhandlungen geben würde.
 
Unabhängig davon führte Israel eine den Haager Konventionen gemäße, bis heute aufrechterhaltene Militärverwaltung im Westjordanland ein – vermutlich als einziges Land seit dem Zweiten Weltkrieg außer den Vereinigten Staaten im Irak. So hat Israel, gemäß Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung, wie vom Besatzer gefordert, „soweit kein zwingendes Hindernis besteht unter Beachtung der Landesgesetze,“ das jordanische Recht in der Westbank größtenteils aufrechterhalten, auch wenn es betont, dass Jordanien das Gebiet seinerseits illegal besetzt hatte. Die israelische Haltung wird als widersprüchlich kritisiert, doch die Fortsetzung jordanischen Rechts kann mit juristischer Stabilität und langfristiger Zuverlässigkeit, wie sie die meisten Rechtssysteme, einschließlich des Völkerrechts, bieten, begründet werden.
 
Artikel 46 der Haager Konventionen untersagt einer Besatzungsmacht, Privateigentum zu konfiszieren. Gerade an dieser Stelle werden die meisten Vorwürfe gegen die Siedlungen laut. Tatsächlich hat Israel privaten Grundbesitz von arabischen Eigentümern requiriert, um einige frühe Siedlungen zu bauen, doch Requirierung ist nicht das gleiche wie Konfiszierung, denn dabei wird eine Kompensation für das Land bezahlt. Die Errichtung der Siedlungen geschah aus militärischen Erwägungen. Im Fall Ayyub v. Minister of Defense vom Jahr 1979 diskutierte das Oberste Gericht Israels, ob Militärbehörden privaten Grundbesitz für eine zivile Siedlung – in diesem Fall Beth El – requirieren könnten, wenn militärische Notwendigkeit erwiesen sei. Sowohl die theoretischen wie auch in diesem speziellen Fall tatsächlichen Antworten waren positiv. Doch in einem weiteren Grundlagenurteil desselben Jahres setzte sich das Gericht im Fall Dwaikat v. Israel, auch Elon-Moreh-Fall genannt, ausgiebiger mit der Frage militärischer Notwendigkeit auseinander und wies die vorgebrachten Beweise ab, da das Militär der Errichtung der Siedlung Elon Moreh erst im Nachhinein zugestimmt hatte. Diese Entscheidung des Gerichts verhinderte im Effekt die fortgesetzte Requirierung privaten palästinensischen Grundbesitzes für zivile Siedlungen.
 
Nach dem Elon-Moreh-Fall wurden alle der legal von den israelischen Militärverwaltung autorisierten Siedlungen (diese Kategorie schließt per definitionem jene „illegalen Außenposten“ aus, die ohne eine solche Autorisierung errichtet werden) auf Land gebaut, dass als „staatlich“ oder „öffentlich“ betrachtet wurde oder – in einer kleinen Zahl von Fällen – auf Land, dass Juden nach 1967 Arabern abgekauft hatten. Der Begriff „öffentliches Land“ beinhaltet unbebautes Land, das in keinem Namen registriert ist sowie Land mit abwesendem Besitzer, beides Kategorien des jordanischen wie osmanischen Rechts. Umgekehrt schließt dieser Begriff Land aus, das auf jemanden registriert ist, es sei denn, der Besitzer ist abwesend (unabhängig davon, ob es kultiviert ist oder nicht), Land, für welches es Besitzurkunden gibt (selbst wenn diese nicht registriert wurden), und Land, das in vorschriftsmäßiger Verwendung ist. Die letzte Klausel verlangt eine durchgehende Bebauung des Landes seit zehn Jahren.
 
Die israelische Charakterisierung bestimmter Gebiete als entweder „staatlich“ oder „öffentlich“ hat beträchtliche Kontroversen ausgelöst. In einer der umfassendsten wie häufig zitierten Kritiken gesteht die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem zwar zu, dass 90 Prozent der Siedlungen auf nominell „staatlichem“ Land gebaut wurden, dass aber heutzutage ungefähr 40 Prozent der Westbank zu dieser Kategorie gezählt werden würden. Dies wäre eine drastische Ausweitung der 16 Prozent des Westjordanlandes, das unter jordanischer Kontrolle als „öffentlich“ galt.
 
B’Tselem gibt allerdings zu, dass ein Großteil dieses Landes sich im Jordantal befindet, welches mit der Ausnahme von Jericho vor 1967 kaum von palästinensischen Arabern bewohnt wurde (womit erklärt werden kann, wieso dieses Land weder registriert noch kultiviert war). Der Prozentsatz hat sich vielleicht auch dadurch erhöht, dass gewisse Jerusalemer Stadtteile von den Berechnungen B’Tselems mit erfasst wurden. Unabhängig vom  Bruttoprozentsatz der von B’Tselem vorgelegten Statistik, befinden sich nur 5 Prozent des Westjordanlandes innerhalb von Gemeindegrenzen der Siedlungen und nur ein weitaus geringerer Teil des Landes, 1,7 Prozent, sind entwickelt.
 
In einer der am meisten zitierten Publikationen B’Tselems wird vorgebracht, dass die größte israelische Siedlung in der Westbank, Ma’aleh Adumim, einige Kilometer östlich von Jerusalem, sich auf einem Gebiet befindet, das fünf palästinensisch-arabischen Dörfern gehört habe, was einer Enteignung gleichkomme. Da die Dorfbewohner weder über registrierte noch nichtregistrierte Besitzurkunden verfügen, argumentiert B’Tselem, dass die nomadischen Jahalin-Beduinen, die gelegentlich dort zelten und ihr Vieh auf dem sich östlich von Jerusalem hin zum Toten Meer abfallenden Land grasen lassen, effektiv Anspruch auf das Territorium erheben können, da sie es wie vorgeschrieben nutzten.
 
Vielleicht. Doch unklar bleibt, weshalb ein Recht der Beduinen an dem Land etwas mit dem Rechtsanspruch palästinensischer Dorfbewohner vor 60 Jahren zu tun haben sollte. B’Tselems Argumentation kommt etwas überraschend: „Sie ließen auf dem zum Dorf gehörigen Land grasen in Übereinstimmung mit Pachtverträgen (mitunter symbolisch) mit den Landbesitzern – einschließlich von Landbesitzern der Dörfer Abu Dis und Al-Izariyyeh.“ Mitunter symbolisch!
 
In anderen Worten, nur palästinensisch-arabische Dörfer dürfen auf diesem Gebiet ausgebaut werden, da gelegentlich Beduinen dort ihr Vieh geweidet haben auf Grund des impliziten Einverständnisses der palästinensischen Dorfbewohner, die nur deswegen Anspruch auf das Land haben, weil es von Beduinen genutzt wurde!
 
Diese Spitzfindigkeit verschleiert ein tiefer liegendes Problem. Abgesehen von seiner Zirkularität setzt das B’Tselem-Argument die möglichen Ansprüche der Beduinen mit den Ansprüchen sesshafter Araber am Stadtrand von Jerusalem gleich. Der einzige Grund für diese Gleichsetzung ist, dass beide Araber und keine Juden sind. Die Behauptung B’Tselems, dass das Land den Dörfern gehöre, fällt mit der Behauptung zusammen, dass nur Araber, aber nicht Juden das Recht hätten, das Land zu besitzen und zu bearbeiten.
 
Gegner der Siedlungspolitik zitieren in ihrer Argumentation heutzutage häufig die Vierte Genfer Konvention. Sie führen dabei besonders aus, dass die Siedlungen Artikel 49(6) verletzen, in dem festgelegt wird: „Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.“
 
Dieser Satz wird häufig auf eine Art und Weise zitiert, als ob seine Bedeutung transparent und seine Anwendung auf die israelischen Siedlungen unstrittig ist. Doch beides trifft nicht zu.
 
Für Siedlungsgegner konnotiert das Wort „umsiedeln“ vom Artikel 49(6), dass jegliche Umsiedlung von Zivilisten der Besatzungsmacht, freiwillig oder unfreiwillig, verboten ist. Der erste Absatz des Artikels 49 verkompliziert die Lage jedoch, denn in ihm heißt es: „Zwangsweise Einzel- oder Massenumsiedlungen sowie Deportationen von geschützten Personen aus  besetztem Gebiet nach dem Gebiet der Besetzungsmacht oder dem irgendeines anderen besetzten oder unbesetzten Staates sind ohne Rücksicht auf ihren Beweggrund verboten.“ Zweifelsohne ist jegliche Zwangsumsiedlung von Bevölkerungsgruppen illegal. Doch wie verhält es sich mit dem freiwilligen Zuzug nach vorausgehender Billigung oder stillschweigendem Einverständnis des Besatzers?
 
Selbst die Gegner der Siedlungspolitik gestehen zu, dass viele der palästinensischen Bevölkerungszentren nahe gelegenen Siedlungen –  so im zentralen Bergland der Westbank –  ohne Genehmigung der israelischen Regierung und oftmals gegen die politische Linie der Regierung gebaut wurden und ihre fortgesetzte Existenz die Regierung dazu zwang, die Siedlung als existierenden Fakt anzuerkennen. Angesichts dieser historischen Tatsache ist fraglich, ob behauptet werden könne, dass Israel diese Siedler „umgesiedelt“ habe.
 
Die Antwort der Siedlungskritiker ist in diesem Fall, dass gewisse Steuererleichterungen und andere von der israelischen Regierung oder der World Zionist Organization gewährten Vorzüge, die Juden ermuntert haben könnten, in der Westbank zu siedeln, in der Realität eine „Umsiedlung“ darstellen würde. Vielleicht hätte diese Interpretation unter dem 1977 verabschiedeten Zusatzprotokoll der Genfer Konvention oder dem Rom-Statut, das den Internationalen Strafgerichtshof begründet, mehr Zugkraft, doch Israel hat keine der beiden unterzeichnet (beide Verträge wurden stark von antiisraelischen Nichtregierungsorganisationen und der PLO beeinflusst).
 
In dem Maß, in dem eine Verletzung von Artikel 49(6) von der Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Bewegung von Menschen abhängt, macht die Einschiebung des Begriffs „zwangsweise“ im Artikel 49(1), wenn auch nicht in 49(6), eine andere Interpretation nicht nur plausibel, sondern auch glaubwürdig. Es handelt sich schlicht um Grammatik, dass in verschiedenen Absätzen derselben rechtlichen Vorkehrung, die auf eine ähnliche Sprache zurückgreifen, sprachliche Modifikationen in den späteren Absätzen nicht noch einmal aufgegriffen werden, wenn die Modifikation am Anfang verstanden wurde. Dem internationalen Völkerrechtsforscher Julius Stone zufolge „[impliziert] das Wort ‚Umsiedlung‘ [49(6)] schon von allein, dass die Bewegung nicht freiwillig von Seiten der Betroffenen ist, sondern dass ein rechtskräftiger Beschluss von Seiten des Staates gemeint ist.“
 
Um die Wortwahl von Artikel 49(1) – „Zwangsweise Einzel- oder Massenumsiedlungen“ – sowie einen plausiblen Grund für Artikel 49(2) zu verstehen, ist etwas Hintergrund nötig.
 
Stone zufolge wurden die Diskussionen bei der diplomatischen Konferenz von Genf 1949 „dominiert … von dem allgemeinen Schrecken über die durch den soeben beendeten Weltkrieg verursachte Verbrechen und von der Entschlossenheit, das Leiden von Kriegsopfern zu minimieren.“ Die Delegierten der verschiedenen Länder berieten über einen Entwurf der Konvention der im August 1948 auf einer Konferenz der Rotkreuz-Gesellschaften in Stockholm zustande kam. Artikel 49 war der neu nummerierte und überarbeitete Nachfolger von Artikel 45 des Stockholmer Entwurfs.
 
Auf einem Treffen eines juristischen Unterkomitees in Stockholm, an dem anscheinend weniger als zehn Leute teilnahmen, schlug ein dänischer Jude namens Georg Cohn einen Satz vor, der, wenn auch mit weitaus größerer Tragweite, zu Artikel 49(6) wurde. Cohns ursprünglicher auf Französisch formulierter Satz hätte eine Besatzungsmacht daran gehindert, „einen Teil ihrer eigenen Bevölkerung oder die Einwohner eines anderen Gebiets, das sie besetzt hält“ in das besetzte Gebiet zu deportieren oder umzusiedeln.
 
Cohns eigenem Bericht an das dänische Außenministerium zufolge zielte seine Sprachwahl auf ein Geschehen, dessen Details außerhalb Skandinaviens wenig bekannt waren. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges, als das sowjetische Militär durch die baltischen Staaten westwärts marschierte und die Deutschen sich zurückzogen, fürchteten Letztere, dass die Sowjets sich an allen deutschen Bürgern oder „Volksdeutschen“, die mit den Nazis kollaboriert hatten, rächen würden. Die Deutschen evakuierten zwei Millionen Menschen auf Schiffe und hofften, sie nach Norddeutschland bringen zu können.
 
Viele Häfen waren bombardiert worden und so begannen die Deutschen, Menschen dort zu entladen, wo sie es gerade konnten u.a. mehrere Hunderttausend in Kopenhagen. Im Frühjahr 1945 stellten deutsche Kinder einen Großteil der Schüler an den Schulen Kopenhagens. Die Dänen verachteten die Deutschen und internierten sie in Lagern, von denen sie, so schnell es ginge, nach Deutschland deportiert werden sollten. Dieses Ziel war im August 1948 zur Zeit der Stockholmer Konferenz noch nicht erreicht worden.
 
Cohn mag bei seinem Vorschlag der Sprachregelung, die später Artikel 49(6) werden sollte, von seiner eigenen starken jüdischen Identität motiviert worden sein. Die ursprünglich in Stockholm präsentierte Sprache zum Thema Deportation hätte weder die Deutschen daran gehindert, deutsche Juden in Sklaven- oder Vernichtungslager in Polen oder anderen besetzten Gebieten zu schicken, noch dänische Juden, die sich auf deutschem Territorium befanden, in die besetzten Gebiete oder ungarische oder italienische Juden nach Auschwitz zu deportieren oder Deutsche nach Polen oder andere besetzte Gebiete umzusiedeln. Cohns Sprache kriminalisierte jedoch all diese Praktiken.
 
Andere Teilnehmer in Stockholm, geführt vom amerikanischen Vertreter Albert J. Clattenburg Jr., hielten Cohns Vorkehrungen für zu umfassend. Die Formulierung „oder die Einwohner eines anderen Gebiets, das sie besetzt hält“ wurde gestrichen und das Wort „zivile“ vor „Einwohner“ gesetzt.
 
Bei der Genfer Konferenz selbst unterschieden sowohl der Abschlussbericht des mit dem Entwurf zur Vierten Konvention  zur Vorlage für die Delegierten beauftragten Komitees wie auch Kommentare der Delegierten generell zwischen Umsiedlungen, die freiwillig stattfanden und daher gestattet wären und unfreiwilligen, die somit verboten wären. Der Abschlussbericht an die Delegierten, der die Unterschiede zwischen einigen Artikeln zum Recht einer Besatzungsmacht, ein Gebiet im Interesse der Sicherheit der Zivilbevölkerung, erläutert, führte aus : „Auch wenn es eine generelle Übereinstimmung in der Verurteilung solcher Deportationen, die während des letzten Krieges stattfanden gab, so bereitete die Formulierung am Anfang von Artikel 45 einige Probleme … Am Ende hatte sich das Komitee zwischen einer Formulierung zu entscheiden, welche zwangsweise individuelle oder massive Entfernung wie Deportation von geschützten Personen aus besetzten Gebieten in ein anderes Land verbietet, doch freiwillige Umsiedlung gestattet.“
 
Genau aus diesen Gründen bezeichnete Julius Stone eine gegen die Siedlungen gerichtete Auslegung als „ ans Absurde grenzende Ironie“ und kommentierte weiter: „Man ignoriert den wesentlichen Grund für Artikel 48, der unter anderem die Bevölkerung des Staates Israel davor schützen soll, gegen ihren Willen in das besetzte Gebiet transportiert zu werden, wenn man ihn nun so zu interpretieren sucht, dass die israelische Regierung die Pflicht habe, jüdische Individuen daran zu hindern, freiwillig in jene Gebiete zu ziehen.“
 
Die Errichtung und Bevölkerung von israelischen Siedlungen und die Nazigräuel, die zu den Genfern Konventionen führten, sind schlichtweg nicht vergleichbar. Die Siedlungen sind auch weit entfernt von der Siedlungspolitik der Sowjetunion in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren des 20. Jh., bei der versucht wurde, die ethnische Zusammensetzung der baltischen Staaten durch Deportation von Hundertausenden von Menschen und Begünstigung der russischen Immigration zu ändern.
 
Ebenso wenig lässt sie sich mit dem Bemühen Chinas gleichsetzen, die ethnische Gestalt Tibets durch zwangsweise Zerstreuung der einheimischen Bevölkerung und der Umsiedlung von Chinesen auf tibetisches Territorium zu verschieben. Israels Siedlungspolitik ist auch nicht vergleichbar mit der marokkanischen Kampagne, die ethnische Zusammensetzung der Westsahara dadurch zu verändern, indem marokkanische Araber umgesiedelt werden, um die einheimischen Bewohner der Sahara zu entwurzeln, die nun in Flüchtlingslagern in Algerien Zuflucht suchen, oder mit den Bevölkerungsumsiedlungen, die sich in verschiedenen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens ereigneten.
 
All diese würden genau zu dem in Artikel 49(6) beschriebenen Vergehen passen. Dennoch kommt es der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen gleich, eine Anwendung des Artikels 49(6) auf andere Nationen außer Israel zu finden. Was ein „Rechtssystem“ von eigenmächtigen Kontrollsystemen unterscheidet, ist, dass ähnliche Situationen gleich behandelt werden. Ein System, dessen Rechtsprinzipien nur dann angewendet werden, wenn es dem politischen Geschmack anti-israelischer Eliten entspricht, hat alle Glaubwürdigkeit verloren. Die lockere Handhabung des Völkerrechts, das unverhältnismäßig scharf auf Israel angewandt wird, untergräbt die Vorstellung, dass dieses „Recht“ überhaupt über autoritäres Gewicht verfügt.
 
Julius Stone äußerte sich über die Absurdität, die Errichtung israelischer Siedlungen als Verstoß gegen Artikel 49(6) zu betrachten, wie folgt:
 
„Das hieße, dass die Konsequenz von Artikel 49(6) ist, dem Staat Israel die Pflicht aufzuerlegen (notfalls mit Gewalt), dass diese Gebiete trotz ihrer jahrtausendealten Assoziation mit jüdischem Leben nun für immer judenrein [Im Original Deutsch – A.d.Ü.] zu sein haben. Die Ironie würde nun zur Absurdität werden, wenn man behauptet, dass Artikel 49(6), entworfen, um die Wiederholung Nazi-mäßiger Völkermordspolitik, die die von Nazis beherrschten Gebiete judenrein machte, nun bedeuten würde, dass die Westbank judenrein gemacht werden und so bleiben müsse, notfalls mit der Gewalt des Staates Israel gegen seine eigenen Bürger. Eine vernünftige Lesart sowie seine korrekte historische und funktionale Kontextualisierung schließen eine derartige tyrannische Lesart des Artikel 49(6) aus.“
 
Stones scharfzüngige Kritik der „akzeptierten“ Weisheit lädt zu einer hypothetischen Fragestellung ein: Angenommen, eine Gruppe palästinensischer Araber, die Bürger des Staates Israel sind, würde um die Erlaubnis bitten, im Westjordanland eine Siedlung zu errichten. Weiter angenommen, der Staat Israel würde diese Gemeinde auf von nichtisraelischen palästinensischen Arabern gekauftem oder staatlichem Grund ermöglichen, ohne dass es zu einem Verlust der israelischen Staatsangehörigkeit käme. Würde diese Siedlung Artikel 49(6) verletzen? Und wenn nicht, wie könnte man eine hypothetische arabisch-israelische Siedlung von einer jüdisch-israelischen Siedlung unterscheiden?
 
Die Schussfolgerung, dass israelische Siedlungen den Artikel 49(6) verletzen, übersieht auch, dass jüdische Gemeinden schon vor der Gründung des Staates in den Gebieten existierten, wo sich heute israelische Siedlungen befinden, so z.B. in Hebron oder im Etzion-Block außerhalb Jerusalems Diese jüdischen Gemeinden wurden von arabischen Armeen, Milizen und Randalierern zerstört und, wie im Fall Hebrons, die Bewohner der Gemeinde abgeschlachtet. Ist es sinnvoll, Artikel 49 so zu interpretieren, dass er die Wiederherstellung jüdischer Gemeinden verhindert, die durch Aggression und Massaker zerstört wurden? Wäre dem so, dann läuft das völkerrechtliche Besatzungsrecht in Gefahr, das Verhalten des einen Besatzers zu zementieren, unabhängig davon, wie unrechtmäßig es war.
 
Die Auffassung, dass die Schaffung neuer Siedlungen oder die Ausweitung bereits existierender eine Geste bösen Willens der verschiedenen israelischen Regierungen gewesen seien, mag ohne Frage jedem einleuchten, der daran glaubt, dass die Siedlungen ein Hindernis für die zunehmend flüchtigere Lösung des arabisch-israelischen Konflikts darstellen. Ob das Argument gut begründet ist oder nicht, der Wille der Kritiker Israels zu behaupten, dass diese Siedlungen nicht nur in die falsche Richtung gingen, sondern das Völkerrecht brechen würden, verschärft die Debatte über ihre Existenz von einem Streit über vernünftige Politik hin zu einem, in dem der jüdische Staat als ein internationaler Gesetzesbrecher dargestellt werden kann. Das eigentliche Ziel eines rechtswidrigen Versuches, das Völkerrecht zur Delegitimation der Siedlungen zu verwenden, scheint klar –  es ist das gleiche Argument, mit dem Feinde Israels versuchen, den jüdischen Staat als Ganzes zu delegitimieren. Jene, die sich als Freunde Israels bezeichnen, aber als Gegner der Siedlungspolitik sehen, sollten sorgsam überlegen, ob, im Vorbringen dieser illegitimen und fadenscheinigen Argumente, sie schließlich in der Lage sein werden, der Logik des Arguments zu widerstehen, das – fälschlich und ohne irgendeine völkerrechtliche Grundlage – behauptet, Israel selbst sei illegitim.
 
David M. Phillips ist Juraprofessor an der Northeastern University.