Zwei Jahre Arabischer Frühling: Reflexionen über Demokratie in der arabischen Welt
Zwei Jahre Arabischer Frühling: Reflexionen über Demokratie in der arabischen Welt
Dr. Jacques Neriah
Auf einem Treffen mit amerikanischen Senatoren wurde der damalige israelische Premierminister Yitzhak Rabin gefragt, ob er sich einen Friedensvertrag mit arabischen Regimen vorstellen könnte, die sich nicht zur Demokratie bekennen und stattdessen ihr eigenes Volk knechten würden. Rabin antwortete daraufhin: „Wenn wir warten müssen, bis sich in den arabischen Ländern Demokratie durchsetzt, dann muss Israel wohl mindestens hundert Jahre warten.“
Seit seinen Anfangstagen sieht sich das Land von autoritären Regimen umgeben, in denen es keinerlei Meinungsfreiheit, persönliche Freiheit oder Freiheit irgendeiner anderen Sorte gibt. Die Bürger der Nachbarländer leben in einer Welt der Verbote, in der sie ständig raten müssen, was akzeptiert oder angemessen ist, um zu überleben. Anstatt zu sagen, was sie denken, lassen sie ihre Herrscher hören, was jene hören wollen, und behalten die wahre Meinung tief in sich verborgen.
In den Jahren nach dem Ende des westlichen Kolonialismus teilte sich die arabische Welt in Monarchien und diktatorische Regime, die auf konfessioneller Spaltung basierten. Die einzige Ausnahme war der Libanon, der zu einer konfessionellen Republik wurde. Etwas später stürzten einige dieser Monarchien zugunsten militärischer Juntas und anderer Diktaturen, wodurch das Gefühl eines tiefgreifenden Mangels an individueller Freiheit sich noch vertiefte. Dieser Prozess machte auch nicht vor jenen arabischen Regimen halt, in denen sich Militärherrschaft mit zivilen Regierungen abwechselte.
Das Resultat blieb in jedem Fall dasselbe: der Kern der arabischen Welt wurde von Militärs beherrscht, während im Rest angeblich auf Allahs Gnaden beruhende Erbmonarchien regierten. In beiden Fällen wurde das Konzept westlicher Demokratie nie umgesetzt, da die arabischen Herrscher es nie akzeptiert hätten und es der islamischen Tradition fremd blieb. Am nächsten kommt das islamische System der westlichen Demokratie in der Institution der Shura, welche eher als eine Art Beratungsausschuss ohne echte Gewalt zu verstehen ist, da alle Autorität beim Herrscher liegt. Die übernommenen westlichen Einrichtungen, wie z.B das Parlament, sind nur Imitationen westlicher Vorbilder – die Macht verbleibt in den Händen der herrschenden Junta.
In einer solchen Welt, in der sich Oppositionelle für Jahre ohne Verhandlung eingesperrt sehen, ihre Gruppen verfolgt, zu Tode gefoltert oder von den Herrschern ohne Spur eliminiert; in der Minderheiten offen diskriminiert und ihre politischen Rechte ignoriert oder verweigert und ihre Anführer grundlos verhaftet werden; in der die Presse nur die Taten der herrschenden Klasse wiedergeben und die v.a. dazu dient, jene zu überhöhen; in der Menschenrechte ohne Bedeutung sind; Bürger mit Auspeitschen bestraft werden, wenn man sie dabei erwischt, Allah nicht wie vorgesehen zu den täglichen Gebetszeiten zu ehren; in der mehr als 10 Prozent der Bevölkerung für die Apparate der Inneren Sicherheit arbeiten; in der die Sharia Amputationen, Enthauptungen oder das Stürzen des Beschuldigten vom höchsten Turm der Stadt fordert; in der Ehebruch oder Homosexualität mit der Todesstrafe durch Hängen oder Steinigen bestraft werden; in der Frauen sich, weil sie an Demonstrationen teilnahmen, dem „Jungfrauentest“ unterziehen müssen, durchgeführt von männlichen Militärärzten – in einer solchen Welt besteht kein Raum für Demokratie. Die einzige Möglichkeit, die sich für eine Opposition eröffnet, ist dagegen zu rebellieren und der regierenden Junta die Macht zu entreißen, nur um dann mit derselben politischen Sprache so weiter zu machen, wie es seit Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten der Fall war.
Zwei Jahre nach dem Ausbruch dessen, was von Romantikern und im Wunschdenken in naiver Weise „Arabischer Frühling“ genannt wurde, weil man dachte, die arabische Welt stünde vor einer neuen Ära von Freiheit und Demokratie, bleibt wenig mehr als Enttäuschung durch die Realitäten vor Ort:
· Tunesien wird von einer Koalition reagiert, die ein Islamist anführt, der, wenn er könnte, das islamische Recht im ganzen Land durchsetzen würde. Und die wichtigste Opposition besteht aus Salafisten, die eine weit strengere Auslegung des Islam fordern.
· Libyen erlebte weniger eine Revolution als eine Rebellion der Ostprovinzen gegen die Herrschaft Gaddafis. Ein Jahr später ist Libyen als Staat nunmehr beinahe zerfallen und wird von islamischen Milizen beherrscht. Von Demokratie ist es weit entfernt.
· In Ägypten wurde die Diktatur Präsident Mubaraks durch die Diktatur der Muslimbruderschaft unter Mohammed Morsi ersetzt, der, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der das 1952 errichtete Militärregime erbte, sich innerhalb von weniger als sechs Monaten einen Großteil der Exekutive aneignete. Beinahe 50 Prozent der Ägypter stimmten gegen ihn, verloren aber gegen eine islamistische Mehrheit. Jene Ägypter, die verloren, kämpfen heute darum, wenigstens einen Teil ihrer Rechte zu bewahren, doch von Demokratie ist wenig zu spüren.
· In Syrien kämpft die Diktatur der Alawiten um ihr Überleben. Es ist recht wahrscheinlich, dass sie in naher Zukunft stürzen und verschwinden wird. Doch man kann mit einer gewissen Sicherheit bereits feststellen, dass ihre Nachfolger keine Demokraten sein werden, denn der Großteil der Kämpfe wird von Fundamentalisten getragen, v.a. von der Muslimbruderschaft. Mit aller Wahrscheinlichkeit dürften, wie der ägyptische Fall zeigt, die Islamisten, die besser organisiert sind, den Aufstand erfolgreich usurpieren und sich selbst als neue Herrscher in Syrien etablieren.
· Auch der Irak hat sich nach dem Abzug der amerikanischen Truppen nicht als blühende Demokratie erwiesen. Die herrschenden Schiiten werden von Al-Qaida bedrängt, deren Ziel die Wiederherstellung sunnitischer Vorherrschaft im Irak ist wie zu Zeiten Saddam Husseins. Keine Seite der Kämpfenden ist an Demokratie interessiert.
· Im Jemen wurde Ali Saleh nicht durch einen Demokraten ersetzt. Sein Stellvertreter verfolgt dieselbe Stammespolitik wie sein Vorgänger mit dem kleinen Unterschied, dass er erfolgreicher darin ist, die Rebellion der Schiiten des Nordens und die anderer aufständischer Stämme in Sanaa zu unterdrücken.
· Durch seine Distanz zum Rampenlicht hat Bahrain den Vorteil, dass die internationale Presse sich nicht so sehr auf seine Politik konzentriert. Dennoch hat die herrschende sunnitische Minderheit nahezu jede demokratische Grenze überschritten. Der brutale Umgang mit der Opposition und ihr fragwürdiges Verhalten bei der Niederschlagung der Schiiten können in keinster Weise als legitime Mittel zum Schutz von Demokratie interpretiert werden, die es in dem Königreich nicht gibt. Der bahrainische Monarch hat seine Nachbarn in Saudi Arabien und in den Emiraten darum gebeten, Truppen zu entsenden, um sein Regime zu retten. Es ist sein Glück, dass Bahrain die Fünfte Amerikanische Flotte beherbergt und daher von Seiten der Obama-Administration weit nachsichtiger behandelt wird, die aus guten Gründen einen Alliierten in der Auseinandersetzung mit dem erbittertsten Feind der Vereinigten Staaten, dem Iran, nicht verprellen möchte.
· Saudi Arabien wurde schon immer nach Islamischen Recht regiert. Seinen Institutionen und seinem politischen Denken ist Demokratie fremd, die sich nicht auf der Agenda des wahhabitischen Königs befindet. Sein brutales Vorgehen gegen die Schiiten in den östlichen Provinzen des Landes, gegenüber dem Iran erinnern daran, welche Art Demokratie den Saudis vorschwebt, wenn sie mit Opposition umzugehen haben. Es erstaunt, dass sowohl die Saudis als auch Katar mit ihrem Geld einige der Rebellionen in der arabischen Welt unterstützen. Doch dieses Geld finanziert die Salafisten und andere islamistische Gruppen, die danach streben, „ketzerische“ Regime zu stürzen.
Beinahe zwei Jahre nach dem Beginn des „Arabischen Frühlings“ findet sich die arabische Welt gespaltener denn je. Die meisten Regime, in denen der „Frühling“ blühte, sind zusammengebrochen, oder stehen kurz davor. Anstelle einer Demokratie hat der Zerfall Libyens eine Situation geschaffen, in der Waffen aus dem libyschen Arsenal es den Tuareg möglich machten, Mali in zwei Teile zu spalten. Libysche Waffen haben sowohl die Hamas in Gaza wie auch die Rebellen in Syrien erreicht. Nord-Mali hat sich unter den Islamisten in eine Oase des von Al-Qaida geführten Terrorismus verwandelt sowie in eine regionale Bedrohung für die Integrität der Länder der Sahel-Zone. Die bevorstehende Desintegration Syriens wird wohl anstelle einer Demokratie potentiell existenzielle Bedrohungen für Israel und seinen Nachbarn, insbesondere Libanon und Jordanien bringen, sollten die riesigen syrischen Arsenale an chemischen und biologischen Waffen in die Hände der Islamisten fallen.
Damit hat der „Arabische Frühling“ ohne Zweifel gezeigt, wie weit die Bereitschaft der arabischen Welt, das Konzept Demokratie zu akzeptieren, noch entfernt ist. In der heutigen Realität scheint es vergeblich, sich zur Demokratie zu bekennen. Zu viele Verbrechen wurden in ihrem Namen begangen, Menschenrechte zu respektieren scheint hingegen immer noch eine zu große Herausforderung.