Europäisch-israelische Beziehungen nach dem Brexit

Europäisch-israelische Beziehungen nach dem Brexit

Freddy Eytan


Der Brexit – d.h. die Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen – stellt in erster Linie für die Briten ein ernstzunehmendes Problem dar, das von der britischen Führung mit Umsicht und so schnell es geht gelöst werden muss.

Europäische Staatsoberhäupter zeigten sich von der britischen Entscheidung schockiert. Umfrageergebnissen vertrauend waren sie zuversichtlich, dass die Mehrheit der Briten Verantwortung und Solidarität unter Beweis stellen und in der EU verbleiben würden, wie es ihr Premier Cameron sich gewünscht hatte.

Nach anfänglicher Enttäuschung und Bitterkeit scheinen sich europäische Politiker allerdings zu erholen und Haltung zurückzugewinnen.

Schlagzeilen, die ein globales Börsenbeben vorhersagten und nicht davor zurückschreckten, den Vergleich zum Aufstieg der Nazis in Deutschland zu ziehen, werden bald vergessen sein. Die Schreckensmeldungen und Untergangszenarien haben sich wieder rargemacht, Märkte und Börsen sich wieder gefangen.

Deutlich scheint, dass die EU nicht so schnell auseinanderfallen wird. Tatsächlich ist sie recht lebendig und dürfte anscheinend kurz- wie mittelfristig einen Verein von 27 Ländern mit knapp einer halben Milliarde Einwohnern und einem durchschnittlichen Bruttosozialprodukt von über $30,000 repräsentieren.

Eine kurze Geschichte der EU

Um zu verstehen, was tatsächlich passiert ist, gilt es, die britische Entscheidung in ihren realen Proportionen zu sehen und ihre wahrscheinlichen Konsequenzen im Guten wie im Schlechten für die Region des Nahen Ostens und v.a. für Israel kurz – und langfristig abzuwägen. Folgendes muss dabei im Kopf behalten werden:

Die Idee, eine "Zone des Friedens und der Stabilität" in Europa zu errichten, entstand nach dem Zweiten Weltkrieg und wurde vom damaligen französischen Außenminister Robert Schuman in einer öffentlichen Erklärung vom 9. Mai 1950 formuliert.

Doch erst am 25. März 1957 wurden die ersten Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft mit der Unterzeichnung der "Römischen Verträge" geschaffen. Großbritannien gehörte weder zu den Gründungsmitgliedern, noch zu den aktiven Gestaltern der EU. Seine anfänglichen Bestrebungen, unter bestimmten Bedingungen Mitglied zu werden, wurden rundum abgewiesen. 1967 legte General de Gaulle ein Veto ein, derselbe de Gaulle, der während des ersten Weltkrieges vom Vichy-Regime zum Tode verurteilt aus Frankreich geflohen war und politisches Asyl in London erhalten hatte. Wie Nietzsche treffend bemerkte, ist ein Staat "das kälteste aller Ungeheuer" – worum es letztlich geht, sind immer Interessen.

Erst nach langwierigen mühsamen Verhandlungen und einem 1975 durchgeführtem Referendum wurde Großbritannien Teil der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Das Königreich verblieb jedoch außerhalb der Eurozone und verwendete weiterhin das Britische Pfund als Währung. Weder wurde das Schengener Abkommen unterzeichnet, mit dem Grenzen und Zollschranken fielen, noch beteiligte sich Großbritannien an den sozialen und juristischen Institutionen. Auch verweigerte es sich einem gemeinsamen europäischen Sicherheitsregime, trotz seiner vollen Mitgliedschaft in der NATO. Ganz offensichtlich bevorzugte das Land immer schon einen gewissen Separatismus und sah sich in erster Linie lediglich als Mitglied einer beachtlichen europäischen Freihandelszone.

Großbritanniens Ausscheiden aus der EU dürfte daher weit weniger ökonomischen Schaden anrichten, als anfänglich befürchtet wurde. Gleichzeitig ist allerdings deutlich, dass Europa diplomatisch beträchtlich geschwächt wurde und der Verlust seiner Bedeutung schmerzhaft verspürt werden wird, sobald die EU vor gewichtigen Entscheidungen steht.            

Gründe für das britische Ausscheiden

Abgesehen von Faktoren, die sich allein aus dem Wesen der britischen Innenpolitik ableiten, haben v.a. drei Themen dazu geführt, dass das Land sich zum Brexit entschloss:

Die schwerfällige Verwaltung und starre Bürokratie Brüssels, wo nicht durch Wahlen bestimmte Behörden aus 28 verschiedenen Ländern und unterschiedlichste Komitees exzessiv über Macht und wichtige Entscheidungen in nahezu jeder Sphäre verfügen, v.a. jenen, die mit Fragen persönlicher Sicherheit verknüpft sind.

Der Zuwachs an Einwanderung, v.a. aus Osteuropa sowie in jüngerer Zeit durch Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien und Libyen.

Die von Europäern verübten Terroranschläge, inspiriert von islamistischen Organisationen wie dem IS und al-Qaida. Die Anschläge von Brüssel und Paris offenbarten den Mangel an Koordination und die Interessenskonflikte der verschiedenen europäischen Sicherheitsdienste sowie das vollständige Scheitern der Geheimdienste.

Darüber hinaus hat sich die EU als vollständig inkompetent darin erwiesen, eine gemeinsame Außenpolitik zu entwickeln. Die wichtigsten Beispiele dafür aus jüngerer Zeit:

Die EU hat zum Sturz Gaddafis in Libyen, Mubaraks in Ägypten und Ben Alis in Tunesien ermutigt und durch ihre Unterstützung des Arabischen Frühlings die bis heute den Nahen Osten und den Maghreb heimsuchenden Krisen begünstigt, die nunmehr auch Europa betreffen.

Die europäische Gleichgültigkeit bei der Suche nach einer Lösung für den syrischen Bürgerkrieg hat angesichts Assads fortgesetztem Krieg gegen seine Bevölkerung und den Aufstieg radikalislamistischer Organisationen einschließlich des IS zu einer Massenfluchtbewegung von Millionen geführt. Anstatt dieses Problem frühzeitig anzugehen, sieht sich Europa nunmehr mit unkontrollierter Einwanderung konfrontiert und der wachsenden Gefahr von Terroranschlägen.

Erwähnt werden sollte allerdings, dass die US-Administration den Europäern dabei die kalte Schulter gezeigt hat und ebenso unfähig war, funktionierende Lösungen zu finden. Das britische Ausscheiden aus der EU stellt entsprechend einen Affront gegen die Regierung Obamas dar. Bei seinem jüngsten Besuch in London rief der amerikanische Präsident die Briten zum Verbleib in der EU auf, doch seine Worte verhallten ungehört.

Die Krise in der Ukraine und die unnötigen Spannungen mit Vladimir Putin, die durch die Sanktionen gegen Russland verursacht wurden.

Europa auf der Suche nach Identität

Aktuell erscheint die EU verwirrt und darum bemüht, sich selbst zu finden. Neben der Sorge um die Flüchtlingskrise und die Verschärfung von Terrorangriffen, kämpft es also an der Heimatfront. Die terroristische Bedrohung ist beständig. Die Hilflosigkeit der europäischen Führung und die Unfähigkeit, für die vielfältigen Probleme brauchbare Lösungen zu finden, erinnern an die Gefahren der 1930er Jahre, zwischen der Machtergreifung Hitlers und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Terroranschläge haben ein Gefühl von Notstand, Panik und Ungewissheit erzeugt.

Die Briten wiederum hatten kein Interesse einer derart unfähigen Führung zu folgen und bevorzugen, die Probleme auf eigene Weise zu lösen. Großbritannien hatte in der Vergangenheit Krisen zu bestehen und sollte fähig sein, die aktuelle Situation zu meistern.

In den 80er Jahren wurde Einwanderung aus islamischen Ländern noch nicht als per se problematisch betrachtet: Europa benötigte Arbeitskräfte. Die damals dominante linksliberale Stimmung gestattete Familiennachzug. Aller Voraussagen zum Trotze hat sich die islamistische Revolution beachtlich verschärft und Religion anstelle säkularer Ideologie hat in Europa an Einfluss gewonnen. Gleichzeitig hat Islamophobie zugenommen.

Solange Muslime nicht mehrheitlich akzeptieren, dass sie – wie seinerzeit die Juden und andere Migrantengruppen – einen gewissen Anpassungsprozess zu leisten und die Regeln der Gastländer anzunehmen haben, dürfte sich die Situation verschärfen. Die meisten Europäer sind nicht bereit, den islamischen Glaubensgemeinschaften einen Status zu gewähren, der in jeglicher Hinsicht von westlichen Vorstellungen von Zivilisation verschieden ist.

Im Hinblick auf eine gemeinsame Außenpolitik herrschen in Europa immer noch jene Frustrationen vor, die damals während der gemeinsamen "Kadesch-Operation" Frankreichs, Großbritanniens und Israels und dem Prozess der Dekolonisation ihren Anfang nahmen. Aus konservativer Perspektive, die immer noch eine alte Weltordnung im Blick hat, ist es für manche schwierig, sich an die neuen technologischen und sozialen Entwicklungen des Internet- und Smartphone-Zeitalters zu gewöhnen.

Die EU hat im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von strategischen Fehlern begangen. Zunächst war es falsch, die Union einfach für jeden auszuweiten, der eine Mitgliedschaft begehrte. Aktuell bewerben sich fünf weitere Länder – einschließlich der Türkei – um Mitgliedschaft. Ganz offensichtlich muss ein vereintes Europa von 28 und mehr Ländern ganz anders funktionieren als eines, das aus 9 oder 12 Ländern besteht. Ein weiterer Fehler war die Aufhebung der Grenzen, wodurch protektionistische Maßnahmen wegfielen und der europäische Markt mit Gütern aus China überschwemmt wurde, was zum Niedergang europäischer Unternehmen und wachsender Arbeitslosigkeit führte. Die Aufhebung von Grenzkontrollen wiederum trug zu einer freien Migration bei.

Nur noch durch eine Sache vereint

Es scheint, als fände Europa nur noch in einer außenpolitischen Frage zu einer einstimmigen Haltung: die Lösung des Nahostkonflikts. Die aktuelle französische Initiative samt der sie begleitenden internationalen Konferenz verdeutlicht diesen genuin europäischen Ansatz der Konfliktlösung.

Der Brexit wird die europäische Nahostpolitik nicht beeinflussen. Dessen muss sich Israel bewusst sein. Im Unterschied zu Großbritannien, das gelernt hat, umfassende Krisen im Wesentlichen selbstständig zu meistern, kann es sich Israel nicht leisten, isoliert dazustehen und ist daher immer auf echte Freunde und Allianzen angewiesen. Einige Stimmen in Israel fordern daher, dass sich das Land fortan auf die attraktiven asiatischen Märkte konzentrieren soll und Europa aufgrund seiner propalästinensischen Stoßrichtung aufgeben sollte. Diesem Ansatz liegt jedoch ein Denkfehler zugrunde. Selbst unter den aktuellen Gesichtspunkten darf die ökonomische Macht der EU nicht unterschätzt werden. Sie stellt daher nach wie vor eine wichtige wirtschaftliche und diplomatische Kraft dar, mit der sich Israel aus geografischen, historischen und kulturellen eng verbunden sieht.

Ebenso muss festgestellt werden, dass Europa nicht monolithisch verstanden werden kann und es substanzielle Unterschiede zwischen West- und Osteuropa gibt. Israel unterhält zu all diesen Ländern bilaterale Beziehung in allen Bereichen. Mit einigen dieser Länder sind diese Beziehungen enger und freundlicher, bei anderen besteht jede Menge Raum zur Verbesserung. Der Brexit dürfte die israelischen Beziehungen nach Europa oder seine Exporte nicht beeinträchtigen. Als Mitglied der wichtigen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und Unterzeichner vieler Abkommen und Verträge teilt Israel viele gemeinsame Interessen im Hinblick auf Wirtschaft, Wissenschaft und Energiepolitik. Israel beteiligt sich weiterhin an Project Horizon 2020 dem umfangreichen, auf sieben Jahre angelegten Forschungs- und Entwicklungsprogramm der EU und hat auch zum ersten Mal eine Mission im NATO-Hauptquartier in Brüssel eingerichtet.

Man darf auch davon ausgehen, dass Israels bilaterale Beziehungen zu Großbritannien, dauerhaftem Mitglied des UN-Sicherheitsrates, weiter gestärkt werden, trotz der aus dem Land zu vernehmenden antiisraelischen Stimmen von BDS und extrem linken Organisationen.

Beleg dafür ist auch, dass die Wahl des Muslims Sadiq Khans zum Bürgermeister von London die jüdische Gemeinde Großbritanniens nicht beeinträchtigt hat, sondern vielmehr den Weg freigemacht hat für den faszinierenden wie wichtigen Dialog mit der gemäßigten islamischen Gemeinde.

In der Zwischenzeit gilt es zu verhindern, dass extrem linke oder extrem rechte Organisationen den Brexit für populistische oder ultranationalistische und rassistische Zwecke nutzen. Solche richten sich zunächst gegen muslimische Migranten und andere ausländische Minderheiten, später jedoch oft gegen Juden und indirekt gegen Israel.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Brexit Großbritannien einen größeren diplomatischen und ökonomischen Spielraum ermöglicht. London ist nicht mehr genötigt, den Launen der Bürokraten in Brüssel zu folgen, wenn es um den Nahostkonflikt geht. Israel ist also gut beraten, einen weisen diplomatischen Kurs zu verfolgen, der ihm die Beziehung zu diesem wertvollen Partner in Europa bewahrt.