EU-Sanktionen gegen Israel? – Zwischen Fakten und Fiktionen
EU-Sanktionen gegen Israel? – Zwischen Fakten und Fiktionen
Einleitung
Jüngsten Zeitungsberichten zufolge gewinnt die BDS-Kampagne, die der palästinensischen Sache wegen einen Wirtschaftskrieg gegen Israel mittels Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen fordert, an Fahrt. Aus Sicht der Gründer stehe man vor einem „Wendepunkt“.
Einige hochrangige israelische Politiker prophezeien bereits, dass die jüngsten Maßnahmen der Europäischen Union gegen die Kooperation mit wirtschaftlichen Aktivitäten Israels jenseits der 1967er Linien sich verschärfen könnten und dass ein Boykott der Siedlungen auf ganz Israel ausgedehnt werden könnte. Auch der amerikanische Botschafter John Kerry hat davor gewarnt, dass die internationale Gemeinschaft Druck auf Israel ausüben könnte, sollte es im Friedensprozess keinen Fortschritt geben.
Zwar fiel es Israel in den vergangenen Jahren schwer, seiner Sache in Europa Gehör zu verschaffen – dies gilt insbesondere für die militärischen Operationen „Gegossenes Blei“ 2008/9 und das Abfangen der Gaza-Flotille 2010 –, doch wie realistisch ist das diplomatische Szenario eines umfassenden Israel-Boykotts durch die EU? Würden EU-Sanktionen tatsächlich zum Einsatz kommen, sobald israelisch-palästinensische Verhandlungen eine Sackgasse erreichen? Ein guter Teil der Diskussion wird ohne echte Kenntnis darüber geführt, wie die EU eigentlich ihre außenpolitischen Entscheidungen trifft.
Insider haben festgestellt, dass die EU in den vergangenen Jahren häufiger zum Sanktionsmittel gegriffen hat. Wurden 2010 nur 22 derartige Entschlüsse gefasst, finden sich für 2011 bereits 69 solche Maßnahmen.[1]
Eine jüngste Studie hat jedoch gezeigt, dass diese Sanktionen eine niedrige Erfolgsrate haben.[2] Und so fand sich gegen Ende 2013 in einer sehr prominenten Entscheidung kein echtes Bedürfnis für erneuerte Sanktionen gegen die Ukraine.[3]
In dieser Übersicht soll einer „Insider-Perspektive“ aus Brüssel Raum gegeben werden zur Evaluation möglicher Sanktionen der Europäischen Union gegen Israel. Dabei sollen die Mechanismen diskutiert werden, mit denen die EU Sanktionen auferlegt.
Diese Studie:
· versucht sich in einer übersichtlichen Einführung in die komplexen Entscheidungsfindungsprozesse der verschiedenen, sich überlagernden EU-Institutionen zum Thema Außenpolitik im Allgemeinen und Sanktionen im Besonderen.
· verweist auf Widersprüchlichkeiten in der europäischen Außenpolitik und wie sie sowohl von Freunden und Feinden Israels ausgenutzt werden können, mit besonderer Berücksichtigung der Frage, wie Sanktionsvorschläge überhaupt in der EU verhandelt werden.
Entscheidungen über EU-Außenpolitik: Einstimmigkeit oder Mehrheitsbeschlüsse?
Zunächst scheint diese Frage sich nicht zu stellen, schließlich ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nach EU-Maßstäben vergleichsweise eindeutig als Grundlage für alle Beziehungen der EU zu Nicht-EU-Staaten definiert.
Entscheidungen müssen einstimmig auf den Treffen des EU-Ministerrats beschlossen werden, wo die Außenminister der 28 Mitgliedstaaten die Politik gestalten, um sie dann an andere EU-Körperschaften zur Umsetzung zu verweisen. Offiziell als Rat der Europäischen Union bekannt kommt ihm die Definitionsmacht bei der Festlegung der GASP zu – zusammen mit dem Europäischen Rat, der durch die Staats- und Regierungschefs der Länder gebildet wird. So traf der Ministerrat am 31. Mai 2013 die Entscheidung, Syrien im Export und Importbereich strengen Beschränkungen zu unterwerfen.
Unter den Bedingungen des Vertrags von Lissabon von 2009, mit dem die rechtliche Basis der Europäischen Union gerade konstruiert wird, ist die GASP der Raum, in dem die umfassendsten strategiepolitischen Richtungsentscheidungen der EU-Außenpolitik, einschließlich Sanktionen getroffen werden. Klare Absicht der Ermächtigung der europäischen Institutionen im Lissaboner Vertrag ist die Stärkung der globalen Rolle der Europäischen Union.[4]
Es bietet sich an, das System der europäischen Entscheidungsfindung kurz zu erörtern. Gegenwärtig bemüht man sich darum, das europäische Abstimmungssystem im diversen politischen Ressorts zwischen 2014 und 2017 zu rationalisieren,[5] so wird die EU ein „qualifiziertes Mehrheitswahlrecht“ einführen, in dem 55 Prozent der Mitglieder des Europäischen Rates 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Dieses neue Abstimmungssystem betrifft dann z.T. auch die Außen- und Sicherheitspolitik. Das Europäische Komitee des Britischen Oberhauses bemerkte in seinem Bericht über den Vertrag von Lissabon dazu:
„Bestätigt wird, dass der Vertrag von Lissabon die Unabhängigkeit der britischen Außen- und Verteidigungspolitik bewahrt, auch unter den Umständen, die entstehen, wenn Einstimmigkeit unmöglich erscheint. Die fundamentalen Prinzipien der GASP werden sich mit den neuen Verträgen nicht ändern. V.a. das Prinzip der Einstimmigkeit und die Suche nach Konsens im Entscheidungsprozess werden für die GASP weiterhin gelten.“[6]
Doch es gibt auch wesentliche Ausnahmen. So könnte z.B. ein Vorschlag der Europäischen Kommission, „die Wirtschaftsbeziehungen mit einem oder mehreren Drittstaaten teilweise oder vollständig auszusetzen oder zu reduzieren“, nach Artikel 301 des Vertrags von Lissabon von einer „qualifizierten Mehrheit“ des Europäischen Rates angenommen werden.[7] Dies ist sicher leichter zu erreichen, als eine einstimmige Annahme, doch immer noch schwerer als eine einfache Mehrheit.
Alle EU-Mitgliedstaaten sind an den Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) beteiligt. Auch dies ist eine dauerhafte Körperschaft, die den Botschaftern jedes Mitgliedstaates eine Ebene bietet, um ernsthafte Probleme der Außenpolitik so oft gewünscht zu diskutieren. Hier werden Szenarien probeweise angedacht.
So könnte ein Land zu dem Entschluss kommen, ein vollständiges Handelsembargo gegen Israel durchzusetzen. Ein anderes könnte eine Einschränkung der Visavergabe an israelische Diplomaten aufgrund von „Kriegsverbrechen“ vorschlagen. Andere Länder könnten absolut dagegen sein bzw. sogar wünschen, ihre Beziehungen zu Israel auszubauen.
Die PSKs sind das Forum, in dem die Mitgliedstaaten damit konfrontiert werden, welche Ideen es sich lohnt zu verfolgen und welche überflüssig sind. Von dort aus erstatten die Botschafter ihren jeweiligen Außenministern Bericht.
Schlüssel-, Routine- und operative Entscheidungen werden schließlich vom EU-Ministerrat getroffen, zu dem die Außenminister einmal im Monat zusammenkommen. Äußerst heikle strategische Fragen werden bisweilen auf der Ebene des vierteljährlichen EU-Gipfels diskutiert, auf der sich die Staats- und Regierungschefs geleitet vom Präsidenten des EU-Rates Herman Van Rompuy treffen, der obersten entscheidungskräftigen Behörde der EU, die der Europäischen Kommission in politischen Frage Instruktionen erteilen kann.
Sanktionen gegen Israel würden ohne Zweifel zunächst an den Europäischen Rat zur strategischen Evaluation verwiesen werden, bevor sie weitergeleitet werden. Dafür ist jedoch Einstimmigkeit von Nöten.
Bei den Treffen der Außenminister führt die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton den Vorsitz (deren Amt 2014 neu besetzt wird). Der Hohen Vertreterin steht es frei, ein eigenes Thema auf die Agenda zu setzen, wenngleich dies nicht häufig geschieht. Selbst abzustimmen ist ihr nicht gestattet; dieses Privileg kommt nur den Mitgliedsstaaten zu – je nach Gegenstand werden ihre Stimmen dabei nach Größe gewichtet oder es wird Einstimmigkeit gefordert.
Ihre Anwesenheit bei den Treffen und ihr Recht, Themenvorschläge zu unterbreiten, sollten jedoch einen Umstand unterstreichen – die institutionelle Überlagerung. Denn neben ihrer Rolle als Hohe Vertreterin ist sie auch Erste Vizepräsidentin und abstimmungsberechtigtes Mitglied der Europäischen Kommission und dadurch in alle außenpolitischen und darauf bezogenen Angelegenheiten verwickelt.
In der Theorie lässt sich im Rahmen der GASP nur einstimmig Politik betreiben, d.h. ein einziger Mitgliedstaat kann alles blockieren. In der Praxis wird jedoch nach dem Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip Druck ausgeübt, wenn ein oder zwei kleinere Mitgliedstaaten sich gegen den Rest stellen, so dass sie am Ende nachgeben.
Im Endeffekt müssen die wesentlichen Fragen der EU-Außenpolitik von den „Großen Drei“ – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – getragen werden, zumindest dürfen jene keine Einwände haben.
Im Fall einer Einigung über eine politische Frage wird die Angelegenheit dann zur Umsetzung und Interpretation an den Europäischen Auswärtigen Dienst verwiesen, der wiederum nicht mit Einstimmigkeit operiert, sondern mit der qualifizierten Mehrheit des EU-Ministerrates.
Mit anderen Worten, selbst wenn formell Übereinkunft über Sanktionen erzielt wird, gäbe es eine ziemliches Hin-und-Her darüber, wie sie in der Praxis auszusehen hätten, es sei denn der Rat war ziemlich spezifisch, was er in der Regel nicht ist.
Alle für diese Studie kontaktierten Quellen berichten übereinstimmend, dass nichts derart substanzielles wie ein neues Sanktionsregime gegen Israel die obersten Ebenen passieren könne, wenn nicht Großbritannien, Frankreich und Deutschland es alle wollten und sie bereit wären, beträchtliche Energien dafür aufzubringen, ihre Differenzen zu überwinden, die sie beim Thema Israel untereinander haben, sowie die Einsprüche, die von einer Reihe kleinerer EU-Mitgliedstaaten wie z.B. der Tschechischen Republik erwartet werden dürfen.
Die Quellen stimmen auch darin überein, dass bei einem derart heiklen Thema wie Israel der Europäische Auswärtige Dienst nicht in der Lage wäre GASP-Entscheidungen des Ministerrates zum Nachteil von Israel zu manipulieren.
Mögliche Form von Sanktionen
Von der EU getroffene Sanktionen können eine ganze Reihe von Formen annehmen. Dazu gehören diplomatischen Maßnahmen wie der Abbruch diplomatischer Beziehungen, die Aussetzung von Zusammenarbeit, Boykott von Sport und Kultur, Handelssanktionen, Waffenembargos, finanzielle Sanktionen wie das Einfrieren von Regierungs- und Privatkonten oder Restriktionen im Hinblick auf Investitionen und Exportkredite, Nichtgestattung von Flügen und Visa für Politiker, die als Persona Non Grata gelten.
Eine ganze Reihe von Ländern vom Iran bis Weißrussland ist von solchen Sanktionen betroffen, wobei die des ersteren gerade im Rahmen der neuen Initiativen modifiziert werden.
Sanktionen können auch darin bestehen, dass Privilegien wieder entzogen werden – so wurde jüngst Sri Lanka der Status APS+ aberkannt, womit das Land seinen privilegierten Handelszugang zu den europäischen Märkten verlor.
Sanktionen werden für eine bestimmte Dauer festgelegt, für die es eine sogenannte „Sunset-Klausel“ – ein Ablaufdatum gibt.
Ein gutes Beispiel dafür war das Waffenembargo gegen die syrischen Rebellen. Sobald das sechsmonatige Embargo ausgelaufen war, verweigerten Großbritannien und Frankreich die Erneuerung ihrer Unterstützung und das Embargo endete, so dass EU-Staaten nunmehr die Möglichkeit hatten, die Rebellen nach Wunsch mit Waffen zu beliefern.
Es gilt im Kopf zu behalten, dass andere Körperschaften wie die Europäische Kommission, die nicht einstimmig beschließen, an der Umsetzung von Außenpolitik beteiligt sind. Der GASP kommt eine hohe Priorität und große Aufmerksamkeit in den Medien zu, v.a. bei brisanten Themen wie Israel. Dennoch ist es möglich, dass vieles unbeobachtet geschieht, das seine Wirkung hat.
Ein Beispiel wäre die Handelspolitik oder der gemeinsame Binnenmarkt der EU. In diesen Bereichen agiert die Europäische Kommission als Exekutive, die die zuvor vom EU-Ministerrat beschlossene Politik umsetzt. Wenn es gilt, dass eine positive Reihe von Maßnahmen für Israel von einer qualifizierten Mehrheit außerhalb der GASP getroffen werden kann, so gilt dies auch für negative. Der Zugang zum gemeinsamen europäischen Binnenmarkt kann annulliert oder ausgesetzt werden, wenngleich eine Entscheidung von diesem Ausmaß die Zustimmung der Staatsoberhäupter bräuchte. Die Ministerien für Handel, Wirtschaft und Wirtschaftshilfe wären in diesem Fall die entscheidenden Körperschaften. Sie operieren mit qualifizierten Mehrheiten.
Doch auch bei den Themen, die unter die qualifizierten Mehrheitsentscheidungen fallen, ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass die brisanten Fragen im Wesentlichen von den Wünschen der „Großen Drei“ dominiert werden. Nachdem bevorzugte Handelsbeziehungen zwischen der EU und Israel etabliert wurden, bedürfte es einiges an Energie und koordinierten Bemühen der „Drei“ diese nun zu beschränken. Solange es keinerlei dramatisches Zerwürfnis zwischen Israel und der EU bzw. zwischen Israel und Großbritannien, Frankreich und Deutschland gibt, erscheint dies als eher unwahrscheinlich.
An dieser Stelle muss jedoch auf einen realen Risikofaktor für Israel hingewiesen werden. Was geschehen könnte, wäre eine zunehmend striktere Interpretation der Richtlinien für das Forschungsprogramm Horizon 2020. Dies hätte – wie weiter unten ausgeführt – als Präzedenzfall für die Zukunft Bedeutung.
Gestaltung der Agenda und Lobbyarbeit
Zunächst soll aber auf zum besseren Verständnis des bereits gesagten auf die Wege verwiesen werden, wie man von der Nichtregierungsorganisationsebene auf die politische Ebenen der EU gelangt.
Politik entsteht nicht im Vakuum. Am Anfang bedarf es einer Idee oder eines Vorschlags, der dann von offiziellen EU-Politikern aufgegriffen werden muss und erst danach befinden wir uns auf der Ebene der praktischen EU-Politik.
Alle unsere Quellen bestätigen, dass Lobbyarbeit durch NGOs an der Tagesordnung ist und viele verschiedene Formen annimmt. Angesichts der vielschichtigen und sich überlagernden Natur der europäischen Institutionen, sollte dies offensichtlich sein, doch geht der Überblick schnell verloren.
Betont werden muss, dass keine Organisation und auch keine Person vor Ort in Brüssel aktiv werden muss, um einen solchen Prozess auszulösen. Jedwede NGO – so auch BDS – könnte einfach Parlamentsmitglieder oder eine Parlamentariergruppe des eigenen Landes ansprechen, die wiederum bei ihren eigenen nationalen Ministerien Lobbyarbeit betreiben, um das Thema Sanktionen gegen Israel in Brüssel auf die Tagesordnung zu bringen. Dies könnte mit Hilfe des Außen-, Wirtschafts- oder Entwicklungshilfeministeriums geschehen oder welches Ministerium sonst noch Beziehungen nach Brüssel aufweist, was für die meisten irgendwie zutrifft.
Wie oben festgestellt, kann ein einziger Mitgliedsstaat durch seinen dauerhaften Vertreter bei den monatlichen Treffen des EU-Ministerrats und mit Hilfe des rotierenden Präsidenten das Thema auf die Agenda packen.
Dies muss unterstrichen werden, denn auf diese Weise tritt die Rolle der Beziehung Israels zu den jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten und deren Innenpolitik deutlicher hervor. Wenn BDS beim beispielsweise deutschen, französischen oder britischen Außen- oder Wirtschaftsministerium Lobbyarbeit betreibt, dann ist es an pro-Israel-Gruppen an gleicher Stelle Gegendruck zu erzeugen.
Wenn die Ministerien der jeweiligen Mitgliedsstaaten nicht mit gegenläufigen Stimmen konfrontiert werden, erhöht sich die Chance, dass von BDS eingebrachte Vorstellungen ihren Weg durch die Institutionen nach Brüssel finden.
Von da an ist es zwar noch ein weiter Weg, doch „von nichts kommt eben nichts“. Wird der Prozess nicht gestartet, wird auch nichts geschehen. Gerade aus diesem Grund ist es entscheidend, dass zu einer vielschichtigen Kampagne, die Israel führen muss, gehört, den Keim in den jeweiligen Mitgliedsstaaten zu ersticken.
Einen Schritt weiter gedacht gilt, dass die jeweilige nationale Politik bei Themen wie Israel sehr stark von den einheimischen Medien beeinflusst wird. Es gilt daher positive und gut unterrichtete Botschaften über Israel in die Medien zu bekommen bzw. die Integrität und Glaubwürdigkeit der antiisraelischen Gegenseite in Frage zu stellen. Dies darf nicht außer Acht gelassen werden.
Im Hinblick auf Brüssel existieren formelle wie informelle Wege, wie Sanktionen auf die Tagesordnung gelangen können. Verwiesen wurde bereits auf die Minister und ihre Delegationen, die diese Punkte auf die Agenda der höchsten Gremien hieven können.
Nicht verhindert werden kann, dass BDS oder ähnliche NGOs Briefe nach Brüssel schreiben und die Botschaften dort mit Petitionen behelligen. Ein Mitglied des Europäischen Parlaments gab uns zur Auskunft:
„Das Sekretariat wird zunehmend Ziel von Lobbyarbeit. Botschafter und Gesandte können dazu gebracht werden, sich in Ruhe mit Catherine Ashton [oder jemanden anderem in der Kommission] zu unterhalten, so dass ein Thema auf die Agenda gelangt. Lobbyarbeit in Brüssel findet mehrgleisig statt. Die rotierende Präsidentschaft mag z.B. nicht über viele Kompetenzen verfügen, ist aber für die Nachbarschaftspolitik zuständig, wozu auch Israel gehört, und kontrollierte jede Menge Gelder.“
Zudem kann ein EU-Parlamentsmitglied in der Versammlung der Hohen Vertreterin, dem Ministerrat oder irgendjemandem der Europäischen Kommission eine Frage zukommen lassen. EU-Parlamentarier können den rotierenden Präsidenten direkt ansprechen, den EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik Štefan Füle oder Baroness Ashton bei ihren regelmäßigen Auftritten vor dem Europäischen Parlament. Jeder von ihnen kann etwas in Bewegung setzen. Lobbyarbeit bei EU-Parlamentariern kann von ihren Wahlkreisen daheim oder den BDS-Gruppen in Brüssel ausgehen. Mitunter handeln sie aber auch aus freien Stücken.
Aktuelles Fallbeispiel – Horizon 2020
Horizon 2020 ist der Rahmen wissenschaftlicher und technologischer Forschungsprogramme der EU. Die EU wünschte die Beteiligung Israels, gilt das Land doch als High-Tech-Nation, die einen beträchtlichen Beitrag liefern könnte. Der ursprüngliche Ansatz von Horizon war, die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität Europas auf dem Weltmarkt zu fördern. Israel war als einziges außereuropäisches Land eingeladen, an dem Programm teilzunehmen. In diesem Kontext wären EU-Sanktionen gegen Israel außerordentlich kontraproduktiv für den europäischen Industrie- und Arbeitsmarkt.
Im Dezember 2012 kamen die EU-Außenminister im Rahmen des Rats für Auswärtige Angelegenheiten und GASP zusammen, um zu entscheiden, dass alle Abkommen mit Israel „eindeutig und ausdrücklich ihre Nichtanwendbarkeit“ auf die „besetzten Gebiete“ zum Ausdruck bringen können und für Westjordanland, Golan und Gaza nicht relevant wären.
Die Europäische Kommission ging sogar noch einen Schritt weiter. EU-Politiker und Zivilbeamte in Brüssel bereiteten Details für die Kommission vor, wie die Entscheidung umgesetzt werden sollte. Man nutzte die Unschärfe der Wortwahl von Dezember 2012, um Mitte 2013 einseitig Richtlinien vorzulegen, die weit schärfer waren, als bis dahin beschlossen oder vorgesehen.
Die Kommission veröffentlichte diese Richtlinien im Hinblick auf Israel, in denen Institutionen jenseits der 1967er Linie von Forschungsgeldern ausgeschlossen wurden. Es gehört zu den Kompetenzen der Kommission, diese Richtlinien festzulegen und sie hatte das Mandat dazu vom Ministerrat.
Solche Festlegungen müssen mit EU-Politik konform gehen. Doch gerade dies ist hier der Fall. Seit 1980 hat die EU das Westjordanland und Ostjerusalem als „besetzte Gebiete“ betrachtet und dies immer wieder bekräftigt. Wie der Fall zeigt, hatte dies aber erst dann seine praktischen Konsequenzen, als die Richtlinien angenommen wurden. Die Richtlinien-Episode zeigt, wie EU-Politiker eine Entscheidung des Europäischen Rates zu einem anderen Gremium wegverlagern kann, das weniger strenge Abstimmungsregeln kennt, wie eben die Europäische Kommission. Die gleiche Prozedur könnte sich im Hinblick auf die Kennzeichnungspflicht für Produkte aus dem Westjordanland wiederholen.
Am problematischsten an Richtlinien für Horizon 2020 und ihrer Interpretation durch einige Mitgliedstaaten ist ganz praktisch die Ausdehnung der „Siedlungsfrage“ auf ganz Israel. Jede Firma oder Institution, die nur über eine Zweigstelle in Ostjerusalem oder dem Westjordanland verfügt, ist von den Richtlinien betroffen – d.h., dass israelische Banken mit Filialen in den Vierteln Gilo und Ramot in Süd- und Nordjerusalem Sanktionen unterworfen werden können. Der Ausschluss würde nicht nur die Zweigstelle, sondern die ganze Firma und all ihre Niederlassung in ganz Israel betreffen.
Einem Brüssel-Insider zufolge:
„Der Horizon-2020-Fall ist nicht zu unterschätzen, wird doch dadurch die Siedlungsfrage auf ganz Israel ausgedehnt. Auf diese Weise entsteht ein Präzedenzfall. Die Mitgliedstaaten müssen Horizon 2020 in allen betreffenden Fragen berücksichtigen. Doch es zeigt sich eben auch, dass sie es als Präzedenzfall für anderes benutzen. So hat das niederländische Außenministerium einheimische Firmen angewiesen keine Beziehungen zu israelischen Unternehmen im Westjordanland zu pflegen.
Und auch dies wurde bereits ausgeweitet. PGGM, eine große niederländische Pensionskasse, hat sich am Horizon-2020-Fall ein Beispiel genommen und ihr Kapital aus fünf israelischen Banken abgezogen, die in ganz Israel operieren. Auf diese Weise wird anschaulich bewiesen, wie die Sanktionsfrage sich auf ganz Israel auszubreiten beginnt.“
Ähnlich hat die niederländische Regierung auf Anraten der Palästinensischen Autonomiebehörde jüngst die niederländische Wasserverwaltung- und Projektplanungsfirma Royal HaskoningDHV angewiesen ihre Projektplanung mit Jerusalem Wastewater und Purification Enterprises Ltd. für ein Abwasserreinigungsprojekt im Kidrontal bei Jerusalem zurückzuziehen.
Hier an dieser Stelle gilt es für Israel sich zu wappnen. Die Gefahr besteht, dass der Horizon-Fall sich ausdehnt, während BDS-Gruppen mehr und mehr Lobbyarbeit für eine verschärfte Interpretation betreiben für etwas, was lediglich Richtlinien sind.
Eine weitere Ebene erwächst dadurch, dass BDS-Gruppen mit Hilfe des Horizon-Präzedenzfalls direkt Lobbyarbeit bei Firmen betreiben, keinerlei Beziehungen zu israelischen Firmen mit Zweigstellen im „besetzten Gebiet“ zu unterhalten.
Der Horizon-2020-Fall bietet Unternehmen eine „Ausrede“ – wie eine Quelle bestätigte – um BDS nachzugeben, mit dem Verweis darauf, dass es lediglich in Übereinstimmung mit der Europäischen Union handle, wie jede anständige Firma sollte. So armselig diese Behauptung auch sein mag, man sollte nicht unterschätzen mit welchem Tempo diese an Fahrt gewinnt.
Sollte Israel im Falle eines Zusammenbruchs der Friedensgespräche die ganze Schuld zukommen, besteht schließlich das Risiko, dass Horizon benutzt wird, um innerhalb der GASP die israelische „Besatzung“ zu verurteilen, indem Maßnahmen beschlossen werden, jedes israelische Unternehmen, jede Universität oder Institution mit Zweigstellen im umstrittenen Gebiet zu bestrafen.
Da das israelische Recht von israelischen Firmen verlangt, in den Gebieten wohnende Israelis nicht zu diskriminieren, würde auf diese Weise eine umfassende Krise zwischen der EU und Israel provoziert.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen
· Gegenwärtig scheint es unwahrscheinlich und bedürfte einer Reihe außergewöhnlicher und unerwarteter Entwicklungen, damit die Europäische Union im Rahmen ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ein neues Sanktionsregime gegen Israel verhängt, unabhängig vom Präzedenzfall, den Horizon 2020 und die Richtlinien der Kommission stellen. Auf dieser Ebene verlangt die EU eine Mischung aus Einstimmigkeit und „qualifizierte Mehrheiten“, wodurch die Hürde zur Verabschiedung relativ hoch gehängt ist.
· Es sollte nicht vergessen gehen, dass die Beziehungen beiderseitig sind. Natürlich ist die EU bei weitem der größere Partner in wirtschaftlicher Hinsicht, doch ebenso sind israelische Technologie und Produkte in Europa hoch angesehen und Sanktionen würden Europa schwer schaden, sollte es wirklich dazu kommen.
· Im Jahr 2010 gab es Versuche, Israel daran zu hindern, pharmazeutische Produkte, die in die EU exportiert wurden, zu zertifizieren. Dies scheiterte im Europäischen Parlament nach einer heftigen Debatte über die theoretische Herkunft der Produkte aus den Siedlungen, obschon es dort keinerlei Produktionsanlage dafür gab.
· Wirtschaftlich betreffen die von den europäischen Institutionen und jeweiligen nationalen Regierungen ihrer Privatwirtschaft und Banken anempfohlenen Sanktionen gegen Israel den Privatsektor. Dies könnte potentiell ein von jedem einzelnen Staat ernsthaft betrachteter Faktor werden.
· Diplomatisch riskiert die EU den Verlust ihres Einflusses auf den Nahostfriedensprozess und damit eine Einschränkung ihrer Rolle in der Welt zu einem Zeitpunkt einer gewissen Nervosität im Hinblick auf ihre internationale Glaubwürdigkeit. Und dies alles ohne echtes Ziel, denn Brüssel weiß genau, dass sich Israel keiner Agenda beugen wird, die von palästinensischen Interessen diktiert wurde.
· Ausgeschlossen werden kann auch kein internationaler Rückschlag im Falle einer europäischen Entscheidung für Sanktionen. Zur Hochzeit des arabischen Boykotts Israels verabschiedeten die Amerikaner Gesetze, dem Boykott zu begegnen, was v.a. amerikanische Unternehmen beeinflusste. Bei den US-Sanktionen gegen den Iran traf es auch nicht-amerikanische Firmen.
· Es ist Israel möglich, sich auf vielen Ebenen dagegen zu wehren. Dies wird nicht geschehen, es sei denn jemand übernimmt die Verantwortung die Gegenwehr zu koordinieren im Rahmen einer gesamteuropäischen Organisation mit den entsprechenden Geldern und Personal sich pro-aktiv gegen BDS und andere antiisraelische Propaganda und Lobbyarbeit zu engagieren. Da im Mai 2014 ein neues europäisches Parlament gewählt wird, muss Israel sich darauf einstellen, dass viele neue Parlamentarier nach Brüssel kommen.
· Teil dieser Strategie muss sein, BDS bloßzustellen. Diese Organisation sorgt sich nicht um palästinensische Rechte oder einen Palästinenserstaat, sondern ist der Vernichtung Israels als historische Heimat des jüdischen Volkes gewidmet.[8]
· Eine größere Aufmerksamkeit muss dem Engagement in Brüssel zu kommen, da im Rahmen des Vertrags von Lissabon diverse EU-Institutionen dort gestärkt wurden.
· Die Erwartungshaltung gegenüber dem aktuellen Bemühen um Friedensverhandlungen ist in jedem Fall niedrig anzusetzen. Ein Scheitern der Gespräche sollte auf der GASP-Ebene keine ernsthaften Probleme provozieren, es sei denn Israel lässt es zu, als einzige dafür verantwortliche Partei dargestellt zu werden.
· Sollte US-Außenminister Kerrys Initiative scheitern, dann muss Israel sich darauf einstellen, dass v.a. auf den unteren Ebenen des EU-Entscheidungsfindungsprozesses Probleme erwachsen.
Das Jerusalem Center for Public Affairs bedankt sich bei Alan Baker, Robin Shepherd, Fiamma Nirenstein und Henk Lok für ihre wertvolle Unterstützung bei der Zusammenstellung dieser Studie.
[1] Konstanty Gebert, “Shooting in the Dark? EU Sanctions Policies,” European Council on Foreign Relations Policy Brief, www.efcr.eu, Januar 2013, ECFR/71.
[2] Clara Portela, European Union Sanctions and Foreign Policy: When and Why Do They Work? (New York: Routledge, 2010), p. 27.
[3] Andrew Rettman, “EU Unlikely to Impose Ukraine Sanctions,” EU Observer, 1. Dezember 2013, http://euobserver.com/foreign/122301.
[4] “Common Foreign and Security Policy Structures and Instruments after the Entry into Force of the Lisbon Treaty,” EPLO Briefing Paper 1/2012, April 2012.
[5] “What Lisbon Contains: The Small Print of A Notably Complicated Document,” The Economist, 27. Oktober 2007, http://www.economist.com/node/10024471.
[6] “The Treaty of Lisbon: An Impact Assessment,” House of Lords European Union Committee, 10th Report of Session 2007-08, Vol. I, 13. März 2008, http://www.publications.parliament.uk/pa/ld200708/ldselect/ldeucom/62/62.pdf.
[7] Portela, p. 27.
[8] NGO Monitor, “Boycotts, Divestment and Sanctions (BDS) Resource Page,” 6. Januar 2014.