Die öffentliche Debatte über den palästinensischen Plan, im September in den Vereinten Nationen einen Staat auszurufen, beruht auf einem grundsätzlichen Denkfehler: die UN-Vollversammlung könne über die Ausrufung neuer Staaten entscheiden. Entgegen einem weit verbreiteten Glauben, war es nicht die UN-Vollversammlung, die formal den Staat Israel schuf. Die Resolution 181 der UN-Vollversammlung, auch als Teilungsplan vom 29. November 1947 bekannt, empfahl lediglich die Errichtung eines jüdischen Staates. Es war eine wichtige moralische Unterstützung für das jüdische Volk. Aber die eigentliche Rechtsgrundlage für die Schaffung des Staates Israel war die Unabhängigkeitserklärung durch David Ben Gurion am 14. Mai 1948.
Gegenwärtig sprechen die Palästinenser über die ‚Anerkennung‘ eines neuen palästinensischen Staates durch die UN im September dieses Jahres. Nabil Shaath, führendes Mitglied des Zentralkomitees der Fatah, sprach davon, dass die PA von zwei Dritteln der UN-Mitgliedstaaten anerkannt werden könnte.
[1] Anfang 2011 ging der palästinensische Außenminister Riad Malki bezüglich der Idee einer Anerkennung durch die UN noch weiter: „Eine solche Anerkennung würde politischen und rechtlichen Druck auf Israel ausüben, seine Truppen aus dem Land eines anderen Staates, der innerhalb der Grenzen von 1967 von der internationalen Organisation anerkannt wurde, abzuziehen.“[2] In der Tat, da Abbas eine internationale Anerkennung anstrebt, die sowohl das Westjordanland einschließt, wo seine Regierung herrscht, als auch das von der Hamas kontrollierte Gaza, sah er sich erst kürzlich wieder dazu veranlasst, eine Aussöhnung zwischen der Fatah und der Hamas anzustreben.Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die derzeitigen palästinensischen Bemühungen bei den Vereinten Nationen überflüssig sind. Die UN-Vollversammlung hat bereits in der Vergangenheit die Schaffung eines palästinensischen Staates empfohlen. Sie bestand hierbei sogar auf die Grenzen von 1967. Am 15. Dezember 1988 verabschiedete die Vollversammlung die Resolution 43/177, die „die Proklamation des Staates Palästina" durch Yasser Arafat während des Treffens des Palästinensischen Nationalrats in Algier am 15. November 1988 anerkannte. Es handelte sich um einen Scheinstaat, da er keine der Minimalanforderungen erfüllte, die das Völkerrecht für eine politische Gemeinschaft festlegt, um als Staat anerkannt zu werden. Die UN störte das nicht und sie versuchte, der Arafat-Erklärung irgendeine Art von Status zu gewähren.
Die UN-Resolution von 1988 bekräftigte, „die Notwendigkeit, dass die palästinensische Bevölkerung ihre Souveränität über ihre Gebiete, die seit 1967 besetzt sind, ausübt.“ Diese Resolution wurde von 104 Ländern unterstützt, nur die USA und Israel stellten sich dagegen (36 Länder enthielten sich der Stimme). Seit dieser Zeit bekräftigen andere UN-Resolutionen der Vollversammlung – zuletzt am 18. Dezember 2008 – die Rechte der Palästinenser auf einen unabhängigen Staat. Aber alle diese früheren Beschlüsse schaffen keine neue rechtliche Wirklichkeit und sie verändern auch nichts vor Ort. Darüber hinaus haben sie nichts an der grundlegenden Tatsache geändert, dass die UN-Resolution 242 vom November 1967 als die einzige Grundlage für jeden vereinbarten arabisch-israelischen Friedensvertrag seit 1979 gilt. Die Resolution 242 verlangt von Israel keinen Rückzug hinter die Grenzen von 1967.
Es gibt mehrere Gründe, warum die palästinensische Führung diese UN-Strategie verfolgt. Erstens ist Mahmoud Abbas davon überzeugt, dass er durch den Weg über die UN einen palästinensischen Staat auf einem Silbertablett übereicht bekommt, ohne in Ramallah eine Erklärung abgeben zu müssen. So sagte er in einem Interview mit Dan Ephron von Newsweek, das am 24. April veröffentlicht wurde, dass er nicht dazu bereit sei, einen Staat auszurufen, wenn die UN-Vollversammlung eine Resolution über die palästinensische Eigenstaatlichkeit beschließt. Abbas zieht es vor, passiv zu sein und die internationale Gemeinschaft die Arbeit tun zu lassen. Damit folgt er nicht dem Beispiel, das der israelische Staatsgründer David Ben-Gurion in den Jahren 1947-48 praktiziert hat.
Abbas weiß, dass es Risiken gibt, wenn er sich dazu entscheidet, einseitig einen Staat auszurufen. Im Jahr 1998, als Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aufgrund des drohenden Endes des Fünf-Jahres-Interimsabkommen mit einem Plan von Yasser Arafat, 1999 einen Staat auszurufen, konfrontiert wurde, warnte die israelische Regierung, dass ein solcher Schritt „eine substanzielle und grundlegende Verletzung des Interimsabkommens“ zwischen Israel und den Palästinensern (die Oslo-II-Vereinbarung) darstellen würde. Sie gab am 11. November 1998 eine formelle Erklärung ab und betonte, dass, wenn eine solche Verletzung eintrete, Israel das Recht habe, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Anwendung israelischen Rechts auf Siedlungsblöcke und Sicherheitszonen in der Westbank. Damals konnten die USA und Israel Arafats Erklärung verhindern. Dies wirft aber auch die Frage auf: wenn die Erklärung von 1988 wirklich Bedeutung hatte, warum wollte Arafat 1999 eine weitere Unabhängigkeitserklärung machen?
Diesen September wird Abbas sagen, dass er nicht verantwortlich sei für das, was die UNO macht, aber er kann gleichzeitig damit rechnen, dass im Zuge einer UN-Resolution 130 oder mehr Staaten einen neuen palästinensischen Staat anerkennen werden. Unter diesen Voraussetzungen erhält er die Eigenstaatlichkeit, ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen. Die übliche Vorgehensweise von Staaten ist, dass sie nur einen neuen Staat anerkennen, der zuvor ausgerufen wurde. Wenn Abbas die UN-Vollversammlung in New York verlassen wird, nachdem er die Unterstützung für einen palästinensischen Staat erhalten hat, ohne diesen Staat in Ramallah ausgerufen zu haben, dann könnte es rechtliche Grenzen geben, wie Staaten auf diese Situation zu reagieren. Aus diesem Grund versuchen palästinensische Wortführer das rechtliche Argument stark zu machen, dass Abbas keinen Staat ausrufen muss, weil Arafat dies bereits mit der Erklärung von 1988 getan hat.
Die diplomatische Strategie der Palästinenser in den Vereinten Nationen basierte seit jeher darauf, qualitative Unterstützung für pro-palästinensische Initiativen zu erhalten und nicht nur quantitative Unterstützung. Mit anderen Worten, es reichte den Palästinenser und dem arabischen Block nicht aus, mit Hilfe der blockfreien Staaten 130 Stimmen in der Vollversammlung der Vereinten Nationen zu erlangen. Eine Unterstützung durch Länder wie Kuba, Jemen und Pakistan war den Palästinensern zu wenig. Aus diesem Grund ist die Unterstützung ihrer Beschlüsse durch die Europäische Union stets entscheidend. Außerdem richten viele Staaten, wie Japan oder Argentinien, ihr Abstimmverhalten an dem aus, was die Europäische Union beschließt.
Auch wenn die Bedenken nicht immer offensichtlich sind, haben die EU und einige andere wichtige Staaten in der internationalen Gemeinschaft einige Probleme mit Vorgehen von Abbas. Neue Staaten wurden in die UN aufgenommen, nachdem sie ihre Differenzen bilateral mit den Staaten, mit denen sie grundlegende Streitigkeiten hatten, beigelegt haben. So konnte Bangladesch erst Mitglied der UNO werden, nachdem es seine Konflikte mit Pakistan, von dem es einmal ein Teil war, gelöst hatte. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrung sind die Europäer sensibel, wenn es um eine vorzeitige Anerkennung von Staaten geht, die sich in ungelösten Konflikten befinden. Der Jugoslawien-Krieg (1991-1995) wurde ausgelöst, als Deutschland Kroatien und Slowenien anerkannte, bevor die Probleme, die durch die Auflösung Jugoslawien entstanden waren, gelöst worden waren. Und Spanien hielt sich zurück, das Kosovo anzuerkennen, weil es den Präzedenzfall, den dies für baskischen Separatisten darstellen würde, fürchtete. Laut Der Spiegel drängt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Abbas dazu, von einem unilateralen Kurs in den UN Abstand zu nehmen.
[3] Abbas kann also für sein UN-Vorhaben im September nicht von einer selbstverständlichen Unterstützung durch die EU ausgehen.Es gibt einen weiteren Faktor, der die europäische Haltung besonders beeinflussen könnte. Das israelisch-palästinensische Interimsabkommen von 1995, das auch als Oslo II bezeichnet wird, stellt eindeutig fest: „Keine Seite soll Maßnahmen beginnen oder Schritte unternehmen, die den Status des Westjordanlandes und des Gazastreifens verändern und die Endstatusverhandlungen vorbehalten sind.“ (Artikel 31). Die Europäische Union hat Oslo II sogar als Zeuge unterzeichnet. Wie kann die EU als Mitunterzeichnerin dieser Vereinbarung dann eine palästinensische Initiative bei den Vereinten Nationen unterstützen, die gegen diese Kernverpflichtung in einem internationalen Übereinkommen verstößt? Können EU-Ländern vorpreschen und einen palästinensischen Staat anerkennen, wenn sie damit aktiv an einer Statusveränderung der Gebiete, deren Schicksal nur durch Verhandlungen bestimmt werden soll, mitwirken?
Darüber hinaus würden die Palästinenser durch ihren Gang zur UN zur Durchsetzung einer einseitigen Veränderung des Status in der West Bank und in Gaza ein unterzeichnetes Abkommen mit Israel verletzen und somit klar eine illegale Handlung vornehmen. Es würde Auswirkungen darauf haben, wie Staaten die Frage der Anerkennung handhaben. Zum Beispiel hätten Staaten, die sich strikt an das Völkerrecht hielten, Grund dazu, die Anerkennung eines palästinensischen Staates zu verweigern. Immerhin gibt es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, so Professor Malcolm Shaw, dass eine „illegale Handlung nicht Recht produzieren [kann].“
[4] Außerdem darf nach dem „Second Restatement of the Foreign Relations Law of the United States“ (1981), kein Staat ein Gebilde als einen Staat anerkennen oder so behandeln, der „die Bedingungen für die Staatlichkeit durch die Verletzung des Völkerrechts erlangt hat."[5]In diesem Sinne zielt Abbas‘ Vorgehen darauf ab, den politischen Kontext für den zukünftigen diplomatischen Streit zwischen Israel und den Palästinensern zum Vorteil der Palästinenser zu gestalten. Er hofft, dass die Obama-Regierung zurückhaltender sein wird, das US-Veto im UN-Sicherheitsrat zu verwenden, wenn er eine überwältigende Mehrheit der Stimmen in der UN-Vollversammlung erhält. Das bedeutet, dass die Gegenzüge Israels auf die Bedingungen der internationalen Debatte abzielen sollten, die Abbas zu verändern sucht. Das ist sowohl ein Kampf um das politische Gewissen wie um das Völkerrecht.
Was sollte Israel tun?Was sollte Israel tun? Es muss der September-Initiative in der UN-Vollversammlung entschieden entgegen treten, auch wenn die Palästinenser bereits die Stimmen haben. Es muss absolut klar machen, dass dieser Schritt nichts weniger als ein schwerwiegender Bruch einer Kernverpflichtung der Osloer Abkommen darstellt, wie es die israelische Regierung 1998 bereits festgehalten hat. Israel sollte keine Zweifel aufkommen lassen, wie ernst es Abbas‘ Vorgehen sieht, vor allem wenn die UN-Resolution, die er einbringen wird, die Grenzen von 1967 erwähnen sollte und dadurch ohne Verhandlungen, wie eigentlich von den Osloer Abkommen vorgesehen, Israels zukünftige Grenzen vorweggenommen werden. Es muss deutlich machen, dass Abbas den Unilateralismus einer Verhandlungslösung, wie in früheren unterzeichneten Abkommen genannt, vorzieht.
Als weiteren Schritt sollte Israel die Obama-Administration und den Kongress auffordern, das Schreiben der amerikanischen Regierung vom 14. April 2004 an den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon zu bestätigen, in dem ausdrücklich ein vollständiger Rückzug Israels aus dem Westjordanland ausgeschlossen und Israel in der Zukunft „verteidigungsfähige“ Grenzen versprochen wurden. Der Brief wurde von einer überwältigenden parteiübergreifenden Mehrheit in beiden Kammer des Kongresses im Juni 2004 bestätigt. Obama hat dieses Schreiben von 2004 weder ausdrücklich angenommen noch es zurückgewiesen.