Ägypten nach Mursi: Ist der politische Islam am Ende?

Ägypten nach Mursi: Ist der politische Islam am Ende?

Col. (ret.) Dr. Jacques Neriah

• Knapp ein Jahr nachdem einer der ihren demokratisch zum ägyptischen Präsidenten gewählt wurde, endete für die Muslimbrüder der 80-jährige Traum von der Macht in einem Fiasko.

• Die Muslimbruderschaft wurde gestürzt, da sie die Opposition falsch eingeschätzt hatte, zu sehr darauf versessen war, alle Schlüsselpositionen des Staates zu besetzen und eine mögliche Allianz zwischen liberalen Kräften und der Armee nicht vorhersehen konnte.

• Die Niederlage der Muslimbrüder ist ganz sicherlich ein Gewinn für all jene Kräfte, die in der arabischen Welt gegen Dschihadisten und der Muslimbruderschaft ähnliche Gruppen kämpfen und zeugt davon, dass der politische Islam von gemäßigten und liberalen Kräften verdrängt werden kann.

• Im ägyptischen Fall stürzte Mursi über eine ungeschriebene Allianz aus Armee und Massenprotesten – kommt dies zusammen, vermag sich kein Regime zu halten.

• Israel hat es der ägyptischen Armee gestattet, Truppen zur Bekämpfung von Dschihadisten auf den Sinai zu schicken, auch wenn dies den Vorkehrungen des Friedensvertrages widerspricht. Damit hat Ägypten einen größeren Handlungsspielraum vor Ort, um den Friedensvertrag zu bewahren.

• Israels vorrangiges Interesse ist die Bewahrung des Status Quo des Friedensvertrages und – wenn möglich – die Eindämmung oder Ausschaltung der Dschihadisten auf dem Sinai. Für Israel erleichtert sich die Zusammenarbeit mit Ägypten, nachdem die Armee das Ruder übernommen hat.

Am 3. Juli 2013 wurde in Ägypten zum ersten Mal in der Geschichte des Nahen Ostens eine Islamokratie von der Macht vertrieben. Knapp ein Jahr nachdem einer der ihren demokratisch zum ägyptischen Präsidenten gewählt wurde, endete für die Muslimbrüder der 80-jährige Traum von der Macht in einem Fiasko. Die Armee, die ein Jahr zuvor von eben diesem gescheiterten Präsidenten noch massiv zurückgedrängt worden war und die gewarnt hatte, sie würde sich einmischen, wenn „Ägypten in den Abgrund zu stürzen drohe“, kehrte so in die Politik zurück.

Seit dieser neuen Revolution wird Ägypten von einer Koalition aus sogenannten Liberalen regiert, die gegen die Herrschaft der Muslimbrüder waren, und die nun von der Armee und dem Verteidigungsestablishment unterstützt wird. Dennoch ist dieses Ägypten gespalten und destabilisiert und könnte aufgrund des gewalttätigen Widerstands der Muslimbrüder, die die Niederlage nicht hinnehmen wollen, in einen Bürgerkrieg stürzen.

Welche Lehren lassen sich bereits aus dem ägyptischen Fall ziehen und welche politischen Szenarien könnten sich für die Zukunft ergeben?

Die Niederlage des politischen Islam

Viele Analysten der ägyptischen Politik hatten wiederholt behauptet, dass die Muslimbruderschaft als gut organisierte politische Gruppierung, der es gelang, sich die Revolution in Ägypten unter den Nagel zu reißen, auf Jahre hinaus an der Macht bleiben würde, da die liberalen Kräfte und die Opposition zu schwach seien. Dieses Argument wurde mit dem Hinweis auf den hohen Organisationsgrad, die Entschlossenheit und den politischen Scharfsinn der Brüder unterstrichen. Dass der ägyptische Präsident die Führungsschicht der Armee im August 2012 nach einen Angriff von Dschihadisten auf dem Sinai, der 12 Soldaten das Leben kostete, feuerte und die Verdrängung des Obersten Rates der Streitkräfte, der seit der Abdankung Mubaraks faktisch regiert hatte, überzeugte viele, dass das alte Konzept eines Ägypten als Militärgesellschaft, beherrscht von einer Junta, der Vergangenheit angehörte. Es galt als ausgemacht, dass die Armee ihre Willen verloren hatte, die Muslimbruderschaft zu bekämpfen, solange nur ihre – vorwiegend wirtschaftlichen – Interessen gewahrt blieben.

Wie die Ereignisse zeigen, war diese Analyse falsch: Die Muslimbruderschaft wurde gestürzt, da sie die Opposition falsch eingeschätzt hatte, zu sehr darauf versessen war, alle Schlüsselpositionen des Staates zu besetzen und eine mögliche Allianz zwischen liberalen Kräften und der Armee nicht vorhersehen konnte. Die Niederlage der Muslimbrüder ist ganz sicherlich ein Gewinn für all jene Kräfte, die in der arabischen Welt gegen Dschihadisten und der Muslimbruderschaft ähnliche Gruppen kämpfen und zeugt davon, dass der politische Islam von gemäßigten und liberalen Kräften verdrängt werden kann.

Unterschätzung der liberalen Kräfte

Es existiert ein falsches Bild von den innenpolitischen Verhältnissen in Ägypten, das von einem oberflächlichen Wissen über die Kräfteverteilung innerhalb der politischen Landschaft des Landes herrührt. Da es keine Möglichkeit gibt, den „wahren Puls der Straße“ zu messen, kommt ein Großteil der Informationen über die innenpolitischen Tendenzen in Ägypten von Umfragen, die wiederum auf nicht ganz unparteiische Quellen zurückgreifen. Entsprechend fielen viele Analysten in die Propagandafalle der Muslimbruderschaft und unterschätzten die Stärke der Opposition. Sie schlußfolgerten, dass die Opposition praktisch keine Chance hätte, den Machtapparat der Muslimbrüder zu überwinden. Dabei zeigt ein Blick auf die Wahlergebnisse, dass 49 Prozent der Wähler gar nicht für diese gestimmt hatten. Unter denen gingen einige sogar so weit zu behaupten, dass Mursi die Wahlen verloren hätte und der Oberste Rat der Streitkräfte nur aufgrund von Manipulationen durch die Vereinigten Staaten Mursi den Sieg zuerkannt hätte, um ein Blutbad zu verhindern. In jedem Fall war von Beginn an deutlich, dass den Bemühungen der Bruderschaft, Ägypten in eine Islamokratie zu verwandeln, mit Widerstand begegnet wurde, der von Tag zu Tag lauter wurde.

Die Jahre der Mubarak-Diktatur wurden nicht von einer Diktatur der Muslimbruderschaft ersetzt. Widerwillig musste Mursi die Armee rufen, damit Recht und Ordnung wiederhergestellt wurden, und je weiter die Ereignisse ihren Lauf nahmen – v.a. nachdem einige Städte im Januar 2013 sich erhoben und ihre Unabhängigkeit erklärten – desto mehr wuchs die Abhängigkeit Mursis von eben jener Armee, die er am liebsten in ihre Baracken verbannt hätte. Es waren die Fehler Mursis, die Armee und liberale Kräfte zusammenführten – eine Entwicklung, die er nicht hätte vorhersehen können.

Als Mursi realisierte, dass die Armee sich komplett auf die Seite der Opposition stellte, versuchte er in letzter Sekunde den Verteidigungsminister und Kommandeur der ägyptischen Armee, General Abdul Fattah al-Sisi, zu ersetzen. Doch Sisi kam ihm zuvor. Anstatt wie sein Vorgänger Feldmarschal Tantawi abgesetzt zu werden, erklärte er seinerseits Mursi für entmachtet. Ein weiteres Zeichen für die mangelhafte Einschätzung der politischen Lage von Seiten der Muslimbrüder.

Instabile Regime und Massenprotest

Die Ereignisse in Ägypten haben einmal mehr die Relevanz von Massenprotesten unter Beweis gestellt. Die meisten Regime der Region zeigen sich Massenprotesten nicht gewachsen. Der Einsatz von scharfer Munition gegen die Proteste verschärft die Lage. Sowohl in Ägypten als auch in Tunesien brachen die Regime durch Massenproteste zusammen, weil die Armee nicht Willens war, einzugreifen und das Feuer zu eröffnen. Im ägyptischen Fall stürzte Mursi über eine ungeschriebene Allianz aus Armee und Massenprotesten – kommt dies zusammen, vermag sich kein Regime zu halten. Der Armee kommt dabei die entscheidende Rolle zu: sie ist der wesentliche regimeerhaltende Faktor und wird dies auch in Zukunft bleiben.

Fragwürdige Rolle der Vereinigten Staaten

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Vereinigten Staaten in Ägypten zusammen mit den von ihnen seit Jüngstem unterstützten Muslimbrüdern als Verlierer dastehen. Ein Großteil der arabischen Welt nahm mit Erstaunen zur Kenntnis, wie die Obama-Administration Präsident Mubarak zum Rücktritt zwang. Vielen blieb unverständlich, wieso die Amerikaner plötzlich umdachten und eine der Muslimbruderschaft freundlich gesonnene Politik einschlugen. Die Vereinigten Staaten, die Demokratie im Nahen Osten und anderswo unterstützen, akzeptierten die Politik Mursis, auch wenn sie ihren eigenen Grundsätzen diametral entgegengesetzt war. Die amerikanische Botschafterin in Ägypten Anne Patterson machte nur wenige Wochen vor dem Umsturz im Juli sehr deutlich, dass sie an keine lebensfähige Alternative zum Mursi-Regime glaubte. Es scheint, als hätten die Vereinigten Staaten angesichts des Zusammenbrechens von Regimen, das als „Arabischer Frühling“ romantisiert wird, die Lage so eingeschätzt, dass sie sich besser auf Seiten der gemäßigt islamistischen Kräfte der Region stellen sollten, um so ihre Präsenz und Interessen sowie den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag zu wahren.

Diese Politik wurde von Seiten Saudi Arabiens und der Golfstaaten (mit Ausnahme Katars), die das Mursi-Regime nicht als ebenbürtig betrachteten, nicht begrüßt. In Ägypten führte sie zu Misstrauen und bald zu offener Feindschaft gegen die damalige amerikanische Außenministerin Clinton und Botschafterin Patterson. Neben Israel sind die Vereinigten Staaten somit in den letzten zwei Jahren zur in Ägypten am meisten gehassten Nation avanciert.

Die Vereinigten Staaten sind nun gezwungen, ihre Nahostpolitik gründlich zu überarbeiten. Die Ereignisse haben erwiesen, dass die alten Axiome gegenüber Veränderung nicht immun sind und dass man sich an neue Realitäten gewöhnen muss. Dazu gehört, dass der Nahe Osten nicht homogen strukturiert und die Interessen von verschiedenen Gruppen berücksichtigt werden müssen.

Welche Rolle könnte Israel spielen?

In Ägypten wird häufig behauptet, dass Israel ein aktiver Partner des Mursi-Regimes gewesen sei. Tatsächlich musste sich Israel mit Mursi einigen, um die Hamas im Gazastreifen unter Kontrolle zu bekommen. Im Unterschied zu seinem Vorgänger war Mursis Ägypten bereit, Verantwortung für die Hamas zu übernehmen. Israel hat es der ägyptischen Armee gestattet, Truppen zur Bekämpfung von Dschihadisten auf den Sinai zu schicken, auch wenn dies den Vorkehrungen des Friedensvertrages widerspricht. Damit hat Ägypten einen größeren Handlungsspielraum vor Ort, um den Friedensvertrag zu bewahren. Einigen Quellen zufolge waren die nachrichtendienstlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern nie so gut wie unter der Regierung Mursi.

Die ägyptischen Entwicklungen haben Israel nicht überrascht. Israel war sich des ägyptischen Unmuts darüber bewusst. Bewertet man Israels Verhalten, dann ist zu erkennen, dass Israels vorrangiges Interesse die Bewahrung des Status Quo des Friedensvertrages ist und – wenn möglich – die Eindämmung oder Ausschaltung der Dschihadisten auf dem Sinai. Für Israel erleichtert sich die Zusammenarbeit mit Ägypten nachdem die Armee das Ruder übernommen hat. Die Situation bleibt gleichwohl explosiv: eine Rückkehr der Hamas zur bewaffneten Konfrontation mit Israel und/oder vom Sinai aus gegen israelisches Territorium gerichtete Terroraktivitäten könnte eine Krise zwischen Israel und Ägypten heraufbeschwören.

Mögliche Szenarien

Im Grunde gibt es vier mögliche Szenarien, die sich in den nächsten Tagen und Wochen abspielen könnten:

1. Die Ereignisse bilden den Beginn einer liberal-demokratischen Entwicklung, ungefähr so wie in der Zeit unter der Wafd-Regierung in den zwanziger und dreißiger Jahren. Die Chancen dafür sind aber außerordentlich gering. Es würde heißen, dass die Muslimbrüder die Niederlage akzeptieren und am politischen Prozess wieder teilnehmen würden, was nicht passieren wird. Die Armee müsste auch alsbald in ihre Baracken zurückkehren. Angesichts des von der neuen Führung vorgelegten Zeitplans erscheint diese Option als problematisch, v.a. in einer mit Gewalt aufgeladenen Atmosphäre.

2. Im zweiten Szenario kommt es zu einer brutalen Unterdrückung der Muslimbruderschaft und der Salafisten durch das Militär, auf welche ein Bürgerkrieg folgt. Ersteres findet bereits statt. Dies könnte eine Rückkehr zu der Zeit Nassers bedeuten, in der Tausende von Muslimbrüdern ins Gefängnis geworfen und ihre Führer gehängt wurden.

3. Im dritten Szenario eskaliert die Lage. Die Armee verliert durch massive Menschenrechtsverletzungen den Rückhalt der Strasse. Ein erzwungener Rückzug würde Chaos verursachen, ein Machterhalt fortgesetzte Missachtung von Menschenrechten.

4. Schließlich könnte sich – wenn keine Ruhe eintritt – Ägypten formal in eine Militärdiktatur verwandeln, so wie damals zur Zeit der Freioffiziere, die 1952 die Monarchie stürzten.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Ägypten vor massiven innenpolitischen Herausforderungen steht, was soviel heißt wie, dass die Führung ihre Energien darauf konzentrieren muss. Das könnte ein Machtvakuum auf dem Sinai verursachen, das es Dschihadisten möglich macht, sowohl ägyptische wie auch israelische Ziele anzugreifen. Die Hamas könnte sich versucht fühlen, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen, auch wenn nun Mentor und Sponsor fehlen. Angesichts dessen ist Israel gezwungen, Ägypten mehr Handlungsspielraum auf dem Sinai einzuräumen, damit der Friedensvertrag gewahrt wird.