Verteidigungsfähige Grenzen und Regionale Stabilität

Seit Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967 die West Bank vom jordanischen Königreich eroberte, befindet sich die internationale Gemeinschaft in einer paradoxen Situation. Einerseits wurde Israel dazu aufgerufen, seine Streitkräfte gegen einen Friedensvertrag mit seinen Nachbarn abzuziehen; andererseits besteht jedoch die Einsicht, dass eine Friedensregelung regionale Stabiltät in einem so leicht entflammbaren Nahen Osten gewährleisten muss. Diese miteinander konkurrierenden Ziele spiegeln sich in der einstimmigen Entscheidung des UN Sicherheitsrates von November 1967 in Resolution 242 wider, in der Israel aufgerufen wird, sich „von Territorien” zurückzuziehen, jedoch nicht von „allen Territorien”. Wie Präsident Johnson damals darstellte, bedeute eine Wiederherstellung des status quo ante eine Garantie für das Ausbrechen eines neuen Krieges. Daher rief der UN Sicherheitsrat, statt der Wiedereinrichtung der früheren Waffenstillstandslinien, von denen aus Israel angegriffen worden war, zur Errichtung von „sicheren und anerkannten Grenzen” auf.
 
Als Präsident George W. Bush Ministerpräsident Ariel Sharon am 14. April 2004 versichterte, dass Israel „verteidigungsfähige Grenzen” in der West Bank verlangen dürfe, brachte er keine neue politische Betrachtungsweise in die Friedensbestrebungen, sondern bestätigte lediglich, was der US Sicherheitsrat vor fast 40 Jahren festgelegt hatte. Darüber hinaus handelte es sich dabei nicht nur um die amerikanische Betrachtungsweise von Israels Rechten und Pflichten. Resolution 242 wurde von Lord Caradon aufgesetzt, britischer UN Vertreter für Ministerpräsident Harold Wilson. Der britische Außenminister George Brown bestätigte 1969, dass Resolution 242 nicht von Israel verlange, sich auf die Vorkriegsgrenzen zurückzuziehen.
 
Jahre später, 1990, als der Irak widerrechtlich nach Kuwait einmarschierte, verabschiedete der UN Sicherheitsrat Resolutionen, die unter Kapital VII der UN Charta, das spezifisch von „aggressiven Handlungen” spricht, Iraks unverzüglichen und totalen Abzug verlangten. Im Gegensatz dazu wurde die Resolution 242 unter Kapital VI der UN Charta, das von der „friedlichen Beilegung von Streitigkeiten” spricht, verabschiedet. Die Sowjetunion scheiterte in ihrem Versuch, Israel in der UN Vollversammlung als den Angreifer von 1967 verurteilen zu lassen; für die ganze Welt war es völlig offensichtlich, dass Israel sich während des Sechs-Tage-Krieges gegen die Aggression zu verteidigen hatte.
 
In den darauf folgenden Jahren wurde den führenden Politikern der Welt klar, dass die Logik hinter Resolution 242 für die Wahrung regionaler Stabilität von ausschlaggebender Bedeutung ist. Notwendig war die Beibehaltung eines ausgewogenen Gleichgewichts zwischen neuen diplomatischen Initiativen und den Sicherheitsansprüchen Israels. Als Präsident Ronald Reagan 1982 seinen Friedensplan vorlegte, sprach er daher von „verteidigungsfähigen Grenzen”, die Israel besitzen müsse; sein Außenminister George Schultz fügte 1988 ausdrücklich hinzu, das Israel sich „nie” auf die Grenzen von 1967 zurückziehen würde. Dies fand in der Friedenskonferenz von Madrid 1991 seinen Ausdruck, als Präsident George H. W. Bush Araber und Israelis dazu aufrief, einen „territorialen Kompromiss” anzustreben. Nach dem Golfkrieg erklärte Ministerpräsidentin Margaret Thatcher, dass „verteidigungsfähige Grenzen für Israel offensichtlich von Bedeutung bleiben” würden. Einige Jahre später drückte der französische Staatspräsident Francois Mitterand seine Unterstützung für einen solchen Kompromiss aus, der auf dem „Allon Plan” basieren sollte, so benannt nach Yigal Allon, dem israelischen Außenminister in der ersten Rabin Regierung der 70er Jahre.
 
Diese langjährige Interpretation von Resolution 242 erlebt in letzter Zeit allerdings eine Reihe von Veränderungen. So erklärte Javier Solana im Oktober 2004 in einem „Spiegel”-Interview, dass er im Rahmen der „Road Map” eine israelische Verpflichtung anstrebe, sich aus „allen besetzten Gebieten” völlig zurückzuziehen. In ähnlichem Sinne schrieb Chris Patten, dass die EU sich zu einem israelisch-palästinensischen Abkommen verpflichte, „auf der Gundlage der Grenzen von 1967”. Durch die Annahme einer Haltung, die eigentlich einen völligen israelischen Abzug aus den im Sechs-Tag-Krieg eroberten Gebieten verlangt, übernimmt die Europäische Union „en bloc” die arabische diplomatische Haltung, ohne Berücksichtigung der israelischen. Dementsprechend bevorzugt die israelische Diplomatie fast immer die US amerikanische diplomatische Rolle im Friedensprozess gegenüber der europäischen.
 
Individuell betrachtet waren nicht alle EU Mitglieder gleichermaßen streng im Hinblick auf den israelischen Rückzug. Die britische Position z.B. wurde von dem Schreiben Präsident Bushs an Sharon beeinflusst. Über die US amerikanische Verpflichtung zu Israels „verteidigungsfähigen Grenzen” hinaus, enthielt Bushs Schreiben einen Satz mit der Aussage: „Angesichts der neuen Gegebenheiten vor Ort, einschließlich der bestehenden großen israelischen Bevölkerungszentren, ist es unrealistisch einen vollen und absoluten Rückzug auf die Waffenstillstandslinien von 1949 zu erwarten und alle bisher unternommenen Versuche, eine Zwei-Staatenlösung auszuhandeln, sind zur selben Schlussfolgerung gelangt”. Vor dem britischen Parlament am 21. Juni 2005 sagte der britische Außenminister Jack Straw etwas sehr Ähnliches: „Ja, es wird einen Austausch von Land und Territorien geben. Die meisten Israelis, mit denen ich spreche, einschließlich Regierungsvertretern, erkennen das an. Eine solche Lösung wird auch unbedingt die Entwicklungen seit 1967 berücksichtigen müssen”. Diese britische Haltung besaß zusätzliches Gewicht, da das Vereinigte Königreich damals die EU Präsidentschaft inne hatte.
 
Warum haben sich einige EU Mitglieder von der UN Sicherheitsratsresolution 242 gelöst? Die europäischen Sprecher bestehen oft darauf, dass Israel sein internationales Recht auf „verteidigungsfähige Grenzen” aufgibt, aufgrund der fehlgerichteten Annahme, dass eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, und sei es durch eine aufgezwungene Lösung, irgendwie den gesamten Nahen Osten, von Nordafrika bis zum Iran, stabilisieren könne. Während des Kalten Krieges glaubten die Vertreter dieser Idee, dass eine solche Lösung die Risiken eines sowjetisch-amerikanischen Zusammenstoßes in der Region senken könnte. Heute glauben die Vertreter einer aufgezwungenen Lösung, dass der israelisch-palästinensische Konflikt die Ursache für den aufflackernden islamischen Militantismus darstellt, der Al-Qaida und andere globale Bedrohungen hervorgebracht hat. Dabei wurde Al-Qaida weder 1948, 1967 noch 1973 als Reaktion auf einen arabisch-israelischen Krieg gegründet, sondern vielmehr im Jahre 1989, aufgrund der sowjetischen Niederlage in Afghanistan. Als Israel im Friedensprozess der Jahre 1993 bis 2000 beispiellose Zugeständnisse gewährte, hatte dies auch nicht die geringsten Auswirkungen auf die wütenden Aktivitäten von Al-Qaida im selben Zeitraum, die einen kaltblütigen Angriff nach dem anderen verübten: in Saudi-Arabien im Jahre 1995, der Anschlag auf die US Botschaften in Ostafrika 1998, auf die USS Cole im Jahre 2000 und schließlich der Anschlag vom 11. September 2001.
 
Aus den Aufzeichnungen der 90er Jahre geht klar hervor, dass insbesondere nach israelischen Zugeständnissen eine Welle von Terrorangriffen gegen Israel ausgelöst werden kann, wenn sich keine palästinensische Führung abzeichnet, die die Sicherheitsverantwortung für die von Israel geräumten Gebiete übernimmt. Nach den Abkommen von Oslo im Jahre 1993 entwickelte sich die Infrastruktur der Hamas-Bewegung in der West Bank auf sehr bedeutende Art und Weise; erst durch eine großangelegte israelische Militäraktion im Jahre 2002, „Schutzschild” genannt, konnte die Infrastruktur, die für zahlreiche Selbstmordattenate in den Zentren israelischer Städte verantwortlich war, entwurzelt werden. Als Israel im Sommer 2005 den Rückzug aus dem Gazastreifen vollzog, wurde das neugeschaffene Sicherheitsvakuum nicht nur von der Hamas- und der islamischen Jihad-Bewegung gefüllt, sondern auch von Zellen der Al-Qaida. Heute stellt sich die Hamas-Bewegung als Modell dar, das von anderen islamistischen Gruppen nachzuahmen sei; ihre Anführer haben ganz offen und nachdrücklich ihre Hoffnung ausgedrückt, dass ihr Sieg als Ansporn für die Mudschahidin in Afghanistan und im Irak verstanden wird. Ein aufgezwungener, völliger israelischer Rückzug aus den verbleibenden Gebieten der West Bank und aus Jerusalem würde als völliger Zusammenbruch der israelischen Absichten interpretiert und könnte sogar den Jihad-Militantismus von Pakistan bis Ägypten und bis ins Zentrum Europas wieder anfächern. Schließlich war es der sowjetische Rückzug aus Afghanistan, der die gegenwärtige militante Welle auslöste, als die afghanischen Araber, die an den dortigen Kämpfen teilnahmen, feststellten, ihr Sieg bedeute lediglich den ersten Schritt in einer weltweiten islamistischen Kampagne.
 
Die Bedrohung der regionalen Stabilität, die aus solchen Entwicklungen hervorgeht, kann nicht überbewertet werden. Historisch gesehen gingen die meisten arabisch-israelischen Kriege aus Situationen hervor, die sich aus kumulativen Terroranschläge gegen Israel eskalierten. Heute haben die regionalen Gefahren, die der Terrorismus mit sich bringt, sehr stark zugenommen. Der Terrorismus beschränkt sich nicht mehr auf Straßenbomben, einzelne Schussangriffe oder Messerstechereien. Heute kann der Terrorismus zu Massenmorden führen, wie wir sie in diesem Umfang bisher nicht kannten – durch Angriffe auf Hochhäuser, öffentliche Verkehrsmittel und nationale Infrastrukturanlagen. Sowohl Al-Qaida, als auch seine ortsansässigen Netzwerke im Nahen Osten, wie etwa Abu Musab al-Zarkawi, haben mit nicht-konventionellem Terrorismus, insbesondere mit biologischen und chemischen Waffen, Erfahrung gesammelt. Die westlichen Nachrichtendienste befürchten in steigendem Maße den zu erwartenden Einsatz „radiologischer” Waffen – einer „schmutzigen” Bombe – durch diese Gruppen. Kurz ausgedrückt, angesichts des Ausmaßes der internationalen Terrorbedrohung nach dem 11. September kann Israel es nicht zulassen, dass Gebiete entlang der Landesgrenzen zur „Heimat” radikaler islamistischer Gruppen werden, deren Ziel darin besteht, das Landesinnere Israels anzugreifen.
 
Aus diesem Grunde hat wahrscheinlich Israels verstorbener Ministerpräsident Itzchak Rabin in seiner letzten Rede vor der Knesset im Oktober 1995 darauf bestanden, dass Israel das Jordantal „im weitesten Sinne des Wortes” beibehält. Sollte sich Israel vollkommen aus dieser strategischen Barriere zurückziehen, werden zweifellos viele globale Jihad-Gruppen diese neue Situation ausnützen und ihre Anstrengungen, die West Bank mit Freiwilligen und Ausrüstung zu infiltrieren, intensivieren, – ein Ziel, das Anführer wie Zarqawi schon offen ausgesprochen haben. Von palästinensischen Städten auf den Hügeln der West Bank, die den internationalen Ben Gurion Flughafen überblicken, wäre es ein Leichtes, die Zivilluftfahrt, viele israelische Bevölkerungszentren und die Spitzenindustrieanlagen anzugreifen, die sich in der unterhalb dieser Hügel gelegenen Küstenebene befinden.
 
Sollte Israel diese Gebiete der West Bank, die von den Hauptverantwortlichen der israelischen nationalen Sicherheit als lebenswichtig angesehen werden, völlig räumen, wären auch andere Staaten des Nahen Ostens davon betroffen. Eine israelische Verwundbarkeit hätte ganz zweifellos auch negative Einflüsse auf die Stabilität in Jordanien, da das Königreich zu einem neuen Sprungbrett für Angriffe gegen Israel würde, wie es schon in den späten 60ger Jahren der Fall war. Darüber hinaus hat Jordanien traditionell mit palästinensischem Irredentismus zu kämpfen, der durch einen israelischen Rückzug aus dem Jordantal ebenfalls verstärkt werden könnte, da ein solcher Rückzug das im Königreich herrschende heikle Gleichgewicht zwischen Jordaniern aus der East Bank und solchen mit palästinensischen Wurzeln stören würde. Eine Destabilisierung von Jordanien betrifft alle umliegenden Staaten: Syrien, den Irak und Saudi Arabien. Kurz gesagt, israelische territoriale Zugeständnisse , die das Ziel verfolgen, regionale Stabilität und Frieden zu fördern, könnten in der Tat den genau entgegengesetzten Effekt erzielen – nämlich eine Destabilisierung der ganzen Region.
 
Es handelt sich dabei nicht um eine rein theoretische Frage. Eine der unbeabsichtigten Nebenwirkungen des Irakkrieges im Jahre 2003 ist die Schaffung eines neuen Zentrums globaler Jihad-Aktivitäten im Herzen der arabischen Welt – nicht mehr nur im weit entfernten Afghanistan. Al-Qaida hat die feste Absicht, seinen Jihad in die westlichen Nachbarländer des Iraks zu exportieren. Seit Sommer 2005 haben Al-Qaida Zellen, die dem Netzwerk von Zarkawi im Irak angehören, verstärkt Angriffe in Jordanien durchgeführt. Israelische Militärverantwortliche haben aufgedeckt, dass Zarkawi einen Vorposten in Jordanien eingerichtet hat, der Versuche unternimmt, in der West Bank ansässige Palästinenser zu rekrutieren. Diese Tatsache sollte eigentlich nicht überraschen, da unmittelbar nach dem israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen im August 2005 Al-Qaida Zellen aus der ägyptischen Sinaiwüste den Gazastreifen infiltrierten.
 
Mit dem Wahlerfolg der Hamas-Bewegung in der palästinensischen Autonomiererwaltung haben radikale Islamisten in Jordanien schon erklärt, sie arbeiteten auf einen ähnlichen Erfolg in Jordanien selbst hin. Militante Gruppen der Moslembrüder haben unter den jordanischen Beduinen der East Bank sowie unter der jordanisch-palästinensischen Bevölkerung bereits festen Fuss gefasst. Sollte Israel sich aus dem Jordantal zurückziehen und eine unmittelbare Berührung zwischen einem Hamas-Regime in der West Bank und der jordanischen East Bank herstellen, würde der Radikalisierungsprozess Jordaniens dadurch zweifellos beschleunigt. Israels neugewonnene Verwundbarkeit würde das Interesse aufständischer Freiwilliger aus der gesamten islamischen Welt wecken, die nach Jordanien strömen würden, um sich ihren radikalen islamistischen Verbündeten in jedem von der Hamas regierten Gebiet auf der anderen Uferseite des Jordans anzuschließen. Ein solcher Sachverhalt wäre ganz eindeutig der Sicherheit Israels und Jordaniens höchst abträglich.
 
In diesen Sinne sind verteidigungsfähige Grenzen nicht nur völlig mit der Sicherheit Israels verbunden, sondern auch mit der Stabilität im Nahen Osten. Es gehört zum heiklen Kräftegleichgewicht im Nahen Osten, das einen breitangelegten arabisch-israelischen Krieg seit 1973 vermieden hat. Aus diesem Grund gehört ein Verständnis von Israels Rechten und Ansprüchen auf verteidigungsfähige Grenzen zu den Voraussetzungen für jede informierte Haltung in den politischen Debatten um den Nahen Osten von heute.