Sollte der Internationale Gerichtshof eine empfehlende Meinung zu Israels Trennzaun abgeben?

  • Da die Palästinenser Israel nicht vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verklagen konnten – weil die Palästinenser keinen Staat haben und Israel die Zuständigkeit des Gerichts nicht anerkannte – haben die Palästinenser ihren Einfluss in der Vollversammlung benutzt, die dann eine Empfehlung forderte.

  • Die besondere Dringlichkeitssitzung der Vollversammlung wurde in Übereinstimmung mit der Resolution „Vereinigung für den Frieden“ von 1950 einberufen, nach der bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor die UN-Vollversammlung handeln kann; diese Bedingungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt worden.

  • Zusätzlich wird die Frage bereits vom Sicherheitsrat behandelt, der die „Roadmap“ übernommen hat. Die Forderung nach einer empfehlenden Meinung untergräbt die Roadmap und die Versuche eine umfassende Lösung für den israelisch-palästinensischen Streit zu finden.


Am 20. November 2003 forderte die UN-Vollversammlung den IGH auf, eine empfehlende Meinung zur Frage zu geben: „Was sind die juristischen Folgen, die aus dem Bau der Mauer entstehen, die von Israel, der Besatzungsmacht, in den Besetzten Palästinensischen Gebieten gebaut wird…“ Israel ist der Meinung, dass das Gericht keine Zuständigkeit hat, sich mit dieser Frage zu befassen. Selbst, wenn es diese Zuständigkeit hätte, sollte das Gericht davon Abstand nehmen sie auszuüben – wie unten erklärt wird.

Der Internationale Gerichtshof

Der IGH ist das wichtigste juristische Organ der UNO. Er wurde 1922, zur Zeit des Völkerbunds, eingerichtet und wurde 1946 erneuert. Der Gerichtshof hat zwei Funktionen:

  1. Streitigkeiten zwischen Staaten durch bindende Urteile beilegen; diese Funktion kann nur ausgeübt werden, wenn beide Staaten erklärt haben, dass sie der Entscheidung des Falls vor dem Gerichtshof zustimmen.

  2. Empfehlende Meinungen zu juristischen Fragen geben, die ihm von einem der größeren Organe der UNO oder anderer internationalen Organisation (den „spezialisierten Organisationen“) vorgelegt werden, die dafür von der UN-Vollversammlung autorisiert sind. Empfehlende Meinungen sind nicht bindend.1 Darüber hinaus kann der Gerichtshof es ablehnen eine bestimmte Meinung zu äußern – er hat Ermessensspielraum.

Hintergrund für den Fall

Am 21. Oktober 2003 verabschiedete die UN-Vollversammlung eine Resolution, die verlangte, dass Israel den Bau des Zauns „stoppt und umkehrt“, der, so die Vollversammlung, „im Widerspruch“ zu internationalem Recht stehe (ein ähnlicher, früherer Vorschlag wurde im Sicherheitsrat durch Veto abgelehnt worden). Da Israel dieser Forderung nicht nachkam, forderte die Vollversammlung den IGH auf eine empfehlende Meinung zur oben zitierten Frage abzugeben. Es sollte angemerkt werden, dass in der Frage von einer „Mauer“ die Rede ist, während die Sperranlage hauptsächlich aus Zaun

besteht und nur etwa 5% die Form einer Mauer hat.

In diesem Fall konnten die Palästinenser Israel nicht vor dem Gerichtshof in einem Fall zwischen Staaten verklagen, weil erstens die Palästinenser keinen Staat haben und zweitens Israel der Zuständigkeit des Gerichtshof nicht zugestimmt hat. Um dieses Problem zu umgehen, benutzten die Palästinenser ihren Einfluss in der Vollversammlung, die dann eine empfehlende Meinung forderte.

Die Natur des Zauns

Der Zaun beinhaltet keinerlei Annexion; er wurde aus Sicherheitsgründen errichtet. Das benötigte Land wurde nicht konfisziert, sondern für drei Jahre requiriert. Für dieses Land wird Pacht gezahlt.

Warum sollte der Gerichtshof es ablehnen eine empfehlende Meinung zu geben?

Interessanterweise ist in dreißig der fast fünfzig schriftlichen Stellungnahmen, die dem Gerichtshof zu diesem Fall vorgelegt wurden, die Meinung vertreten worden, dass der Gerichtshof keine Meinung äußern solle. Selbst in einigen Stellungnahmen, die die Legalität des Zauns bezweifeln, geben deren Autoren den Rat, die Nicht-Zuständigkeit des Gerichtshofs zu erklären.

Die Hauptargumente Israels gegen die Zuständigkeit kann wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Die Vollversammlung handelte ultra vires mit der Anforderung einer beratenden Meinung, da die Bedingungen für ein Handeln durch die Vollversammlung unter der Resolution „Vereinigung für den Frieden“ nicht gegeben sind.

  2. Die Frage ist hauptsächlich politischer Natur und sollte daher durch diplomatische und politische Mittel behandelt werden.

  3. Die Forderung untergräbt den Sicherheitsrat, der 2003 die von den USA, Russland, der UNO und EU getragene Roadmap verabschiedete.

  4. Der Zaun ist eine Frage, die im größeren Zusammenhang des israelisch-palästinensischen Konflikts steht. Diesen Einzelpunkt herauszupicken untergräbt die Bemühungen, eine umfassende Lösung zu finden.

  5. Da die Vollversammlung für sich bereits über die Rechtmäßigkeit des Zauns entschieden hat, erscheint es überflüssig, die Frage dem IGH vorzulegen.

  6. Dies ist ein Versuch, den Gerichtshof einen umstrittenen Fall durch das Mittel einer empfehlenden Meinung entscheiden zu lassen.

  7. Der Ruf des Gerichtshofs könnte leiden, wenn er in eine solche hoch politische Sache involviert wird.

Die Haltung Israels

Israel hat dem IGH eine detailliert geschriebene Stellungnahme vorgelegt, die sich mit der Frage der Zuständigkeit und Angemessenheit der Abgabe einer empfehlenden Meinung befasst. Zum Hintergrund beschreibt die Stellungnahme auch die faktische Lage – die ernsten und furchtbaren Terrorakte, die der Zaun verhindern oder zumindest vermindern soll.

Allerdings hat sich Israel entschieden, nicht an den Anhörungen teilzunehmen, die für den 23. bis 25. Februar vorgesehen sind; dafür gibt es mehrere Gründe:

  1. Israels Teilnahme an den Verhandlungen könnten als Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofs für diesen Fall angesehen werden.

  2. Eine solche Teilnahme könnte die Palästinenser und ihre Verbündeten dazu verleiten, den Fall in eine Public Relations-Show zu verändern, die Israels Existenzrecht leugnet, wie es in Durban (Südafrika) bei der Konferenz gegen Rassismus geschah.

  3. Israel hat seine Argumente in einer schriftlichen Stellungnahme vorgelegt und erklärt.


Anmerkung:

  1. Nur wenn er als Berufungsgericht gegen Entscheidungen des UN-Verwaltungstribunals handelt – d.h. bezüglich Streitfällen zwischen der UNO und ihrer Bediensteten – sind die empfehlenden Meinungen bindend.

*Ruth Lapidoth ist Mitglied im Jerusalem Center for Public Affairs, Prof. emer. für internationales Recht an der Hebräischen Universität in Jerusalem und Professor an der Law School of College of Management. *Zu ihren Büchern gehören: The Arab-Israel Conflict and Its Resolution: Selected Documents (1992), The Jerusalem Question and Its Resolution: Selected Documents (1994), Autonomy: Flexible Solutions to Ethnic Conflicts (1997) und The Old City of Jerusalem (2002). Sie ist ebenfalls Autorin von “Legal Aspects of the Palestinian Refugee Question”, Jerusalem Viewpoints Nr. 485 (September 2002). Im Jahr 2000 erhielt sie den Preis „Prominent Woman in International Law Award“ der WILIG-Gruppe der American Society of International Law. Dieser Jerusalem Issue Brief gründet sich auf ihre Präsentation am Institute for Contemporary Affairs in Jerusalem am 2. Februar 2004.