Operation Gegossenes Blei: Eine moralische Einschätzung

Operation Gegossenes Blei: Eine moralische Einschätzung

Asa Kasher

· In Israel sind Soldaten Bürger in Uniform; häufig sind sie Rekruten oder im Reservedienst. Im Kriegsfall sind sie Kombattanten. Der Staat muss zwingende Gründe haben, um ihr Leben zu gefährden. Dass Personen, die sich terroristisch betätigen und sich in der Nähe von Menschen aufhalten und agieren, die nichts mit Terrorismus zu schaffen haben, keine Kombattanten sollen, ist kein Grund, weshalb das Leben offizieller Kombattanten mehr gefährdet werden sollte, als unter den Bedingungen eines regulären Kampfes.

· Der ethische Kodex der IDF verlangt, wann immer möglich, Nichtkombattanten zu warnen, wenn sie ein Gebiet bewohnen, in dem sich aufzuhalten gefährlich ist. Die IDF haben in Gaza eine ganze Reihe präzedenzloser Maßnahmen ergriffen, um die Verletzung nicht am Kampf Beteiligter zu minimieren – dazu gehörten Warnflugblätter, Warnanrufe und Warnschüsse.

· Keine Armee der Welt würde ihre Soldaten gefährden, nur um nicht bereits gewarnte Nachbarn eines Gegners oder eines Terroristen zu treffen. Israel sollte das Leben seiner eigenen Soldaten über das Leben der gewarnten Nachbarn von Terroristen stellen, wenn es auf einem Gebiet operiert, das ihm keine effektive Kontrolle gestattet. In solchen Gebieten kann es keine moralische Verantwortung dafür tragen, die gefährlichen von den harmlosen Individuen immer sauber zu unterscheiden.

· Verhältnismäßigkeit ist keine numerische Vergleichsgröße, sondern eine Einschätzung der existierenden Bedrohungen und der Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um Erstere zu verhindern. Verhältnismäßigkeit ergibt sich aus der Entschuldbarkeit der Kollateralschäden, die für einen militärischen Vorteil entstehen.

· Man vergleiche die Gaza-Operation mit dem Einsatz der US-Marines in Falludscha, Irak, Ende 2004. Während der Operation wurden ungefähr 6 000 Iraker, darunter 1 200 bis 2 000 Aufständische getötet. Von den 50 000 Gebäuden der Stadt wurden ungefähr 10 000 zerstört, einschließlich sechzig Moscheen. Die von den Vereinigten Staaten angerichteten Zerstörungen waren also weitaus größer als die israelischen in Gaza. Im gegenwärtigen Bemühen, das Völkerrecht anzuwenden, ist es essentiell, die IDF-Aktivitäten mit denen der Streitkräfte anderer westlicher Demokratien zu vergleichen.

· Israel kommt eine Schlüsselrolle in der Entwicklung eines Völkergewohnheitsrechts auf diesem Gebiet zu, da es sich in einer Frontstellung im Kampf gegen den Terrorismus befindet. Um so häufiger andere westliche Staaten die von Israel entwickelten Prinzipien in ihren eigenen nichtkonventionellen Konflikten, sei es in Afghanistan oder Irak, zur Anwendung bringen, umso größer ist die Chance, dass diese Prinzipien ein wertvoller Teil dieses Völkerrechts werden.

Die Tradition „gerechter Kriege“

Nach acht Jahren ununterbrochener Raketenangriffe, eröffnete Israel am 27. Dezember 2008 eine militärische Operation gegen die Hamas in Gaza. Wie verhält es sich mit diesem Einmarsch aus moralischer wie ethischer Perspektive?

Wie bei jeder moralischen Einschätzung eines Krieges müssen wir zunächst das „Warum?“ von dem „Wie?“ unterscheiden. Die Theorie des „gerechten Krieges“ differenziert zwischen dem ius ad bellum und dem ius in bello – also zwischen der moralischen Rechtfertigung des Krieges und der moralischen Rechtfertigung des Verhaltens im Krieg. Die Entscheidung, Krieg zu führen oder eine Militäroperation zu beginnen, wird von der Regierung, also von Politikern getroffen. Die Umsetzung dieser Entscheidung im Feld, das „Wie?“, wird von der militärischen Führung bestimmt. Grundsätzlich kann die Regierung so nicht für das Verhalten der Soldaten beschuldigt werden und die Soldaten nicht für die Entscheidungen der politischen Klasse.

Wenn man nach dem „Warum?“ fragt, verweist man auf eine Reihe von Prinzipien der Tradition des „gerechten Krieges“. Das Erste ist das Recht auf „Selbstverteidigung“. Von außen betrachtet, also auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen, hat ein Staat das Recht, sich gegen einen Angriff zu verteidigen. Von innen her gesehen, also aus der Perspektive der Beziehung zwischen einem Staat und seinen Bürgern, hat die Regierung die Pflicht, seine Bürger zu verteidigen. Ein Staat muss seine Bürger vor Gewalt schützen, um die eigenen Existenzbedingungen aufrecht zu erhalten, von denen an erster Stelle die Bewahrung des Lebens seiner Bürger steht. Ein demokratischer Staat ist daher in der Pflicht, das Leben seiner Bürger zu verteidigen. Folglich hat ein Staat ein Recht gegenüber seinen Feinden und eine Pflicht gegenüber seinen Bürgern. Damit wird das staatliche Recht auf Selbstverteidigung im Bezug auf das, was sich jenseits seiner Grenzen befindet, von der Pflicht zur Selbstverteidigung im Bezug auf das, was sich innerhalb seiner Grenzen befindet, unterschieden. Beides trifft auf den hier betrachteten Fall zu, da seit Anfang 2001 über 10 000 Kassam-Raketen und Mörser von Gaza auf Israel abgeschossen wurden und damit das Leben israelischer Bürger angegriffen und gefährdet wurde.

Das Zweite ist das Prinzip der ultima ratio, des letzten Mittels, das festlegt, dass, wenn der Streit ohne Rückgriff auf militärische Gewalt und Opfer gelöst werden kann, beide Seiten dazu verpflichtet sind. Mit anderen Worten, die Anwendung militärischer Gewalt ist nur dann gerechtfertigt, wenn alle anderen Alternativen erschöpft wurden. Auch hier befindet sich Israel vermutlich im Recht, denn anstatt die Offensive gleich nach dem ersten Einschlag einer Kassam-Rakete in Sderot zu starten, hat das Land acht Jahre gewartet und andere Lösungen, sowohl militärischer als auch politischer Natur, verfolgt. Israels langjähriger Verzicht auf irgendeine größere militärische Antwort angesichts dieser Aggression entspricht vermutlich dem Prinzip der ultima ratio.

Schließlich legt als drittes das Prinzip des Sieges fest, dass eine militärische Operation nur dann unternommen werden darf, wenn sie eine vernünftige Aussicht auf Erfolg hat. Derartige Operationen sollten nicht eingeleitet werden, wenn sie lediglich eine symbolische Geste der Tapferkeit darstellen. Ohne Aussicht auf Sieg ist die Anwendung militärischer Gewalt lediglich Blutvergießen. An dieser Stelle müssen wir jedoch zwischen klassischen Kriegen wie dem Zweiten Weltkrieg und dem Sechstagekrieg unterscheiden, bei denen der Sieg der Ausschaltung der militärischen Bedrohung gleichkam, und dem asymmetrischen Antiterrorkampf bzw. der Aufstandsbekämpfung gegen nichtstaatliche Akteure, in denen sich Israel terroristischen Milizen wie der Hisbollah oder der Hamas gegenüber sieht. Bei letzteren Konflikten bedeutet ein Sieg eine deutliche Verbesserung der Sicherheitslage durch die Beschädigung der militärischen Infrastruktur des Gegners und seiner Fähigkeit, Terror auszuüben. Auch in diesem Fall hat der israelische Einmarsch in Gaza im letzten Jahr das entsprechende Prinzip erfüllt.

Die moralischen Standards der israelischen Streitkräfte

Fragt man nach den moralischen Standards einer Armee – was nicht das gleiche ist wie die Moral eines Individuums zur Sprache zu bringen – dann tauchen drei unabhängige Fragen auf. Eine betrifft die grundlegenden Werte, nach denen eine Armee handelt und ihren ethischen Kodex. Eine zweite Ebene betrifft die Umsetzung dieser Werte in die Praxis mittels militärischer Doktrin, Gesetzen und Einsatzregeln. Werte sind abstrakt, Doktrinen schon konkreter und Einsatzregeln am konkretesten. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Verhalten der Soldaten im Feld.

Die Werte der israelischen Streitkräfte, wie sie im Dokument „The Spirit of the IDF“ zu finden sind, sind, ähnlich wie die Werte der amerikanischen und britischen Truppen, makellos. So lautet der grundlegendste Wert, dass die Menschenwürde jedes Individuums geschützt werde müsse, selbst die des schlimmsten Terroristen. Doch wie schützen wir die Menschenwürde eines Terroristen? Indem man entscheidet, ob man ihn tötet, gefangen nimmt oder laufen lässt.

Hinzu kommt der einzigartige israelische Wert von der Heiligkeit des menschlichen Lebens, sowohl dem unserer Soldaten, unserer Bürger, als auch jedes anderen Menschen. In dieser ausdrücklichen Form findet sich dieser in keinem anderen ethischen Kodex einer Armee.

Der Militärkodex legt auch den fundamentalen Wert der „Reinheit der Waffen“ fest, womit die Reinheit der Anwendung der Waffen gemeint ist. Soldaten dürfen Gewalt nur für die Erfüllung ihrer Missionen einsetzen. Jegliche Nutzung der Waffen darüber hinaus und mit der nicht Bürger in Erfüllung einer spezifischen Mission verteidigt werden, wird als unmoralisch betrachtet.

Nach Einschätzung des Autors gibt es keinen ethischen Kodex einer Armee der dem der IDF überlegen wäre.

Die völkerrechtliche Perspektive

Wenden wir uns nun dem Teil des Völkerrechts zu, der die Kriegsführung betrifft. Erwogen wurde dieser im 17. Jahrhundert vom niederländischen Juristen Hugo Grotius auf Grundlagen einer langen philosophischen und theologischen Tradition – der des „gerechten Krieges“. Später wurde er in der Haager Landkriegsordnung und den Genfer Konventionen niedergelegt.

Streng genommen trifft das Völkerrecht nicht auf die Situation zu, der sich Israel in Gaza gegenüber sieht. Seine Vorkehrungen wurden getroffen für einen militärischen Konflikt zwischen Armeen mit klaren Kommandoketten, in denen alle Soldaten Uniformen und ihre Waffen offen tragen und den Zivilregierungen eines bestimmten Staates unterstehen. Terroristische Milizen wie die Hamas sind jedoch in staatliche Strukturen eingebettet. Die Hamas operiert von einem Territorium, das eine politische Körperschaft – die Palästinensische Autonomiebehörde – darstellt, jedoch kein Staat ist. Darüber hinaus verwischen palästinensische Terroristen vorsätzlich und immer wieder die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, sowohl innerhalb der palästinensischen Bevölkerung als auch unter ihren Zielen innerhalb der israelischen Bevölkerung. Die klassische Annahme einer gegenseitigen Einhaltung des Kriegsrechts bewährt sich im Kampf gegen den Terrorismus also nicht.

Wie kann das Völkerrecht, das für klassische Kriege gedacht ist, in nichtkonventionellen Konflikten angewandt werden? Eine Möglichkeit besteht darin, dass es kreativ interpretiert wird. Die Probleme eines solchen Ansatzes sind jedoch offenkundig. Wessen Interpretation setzt sich durch? Die des Obersten Gerichts Israels? Des Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten? Die der Rechtsabteilung des Marine Corps? Oder von irgendjemand bei den Vereinten Nationen?

Eine ethische Doktrin für den Antiterrorkampf

Israel sollte einen anderen Weg wählen, denn es ist interessiert daran, dass das Völkerrecht ausgedehnt wird, anstatt dass die gegenwärtigen Vorkehrungen durch andere ersetzt werden. In der Ausweitung des Völkerrechts werden neue Prinzipien im Sinne der Tradition des „gerechten Krieges“ geschaffen, indem man sich an fundamentalen Prinzipien orientiert, und nicht nur einen gewissen Absatz irgendeiner Konvention neu interpretiert. In diesem Sinne haben Generalmajor Amos Yadlin und ich einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen und ein Dokument vorgelegt, das eine ethische Doktrin für die Bekämpfung des Terrorismus bietet. Dieses Dokument wurde 2005 in dem Journal of Military Ethics publiziert. Ich präsentiere hier in Kürze einige Elemente daraus.

Gewöhnlich ist die Pflicht, die Opferzahl unter den Kombattanten im Kampfeinsatz gering zu halten, die Letzte auf der Prioritätenliste. Diese Vorstellung lehnen wir mit aller Entschiedenheit ab. In Israel sind Kombattanten Bürger in Uniform; häufig sind sie Rekruten oder im Reservedienst. Der Staat muss zwingende Gründe haben, um ihr Leben zu gefährden. Dass Personen, die sich terroristisch betätigen und sich in der Nähe von Menschen aufhalten und agieren, die nichts mit Terrorismus zu schaffen haben, keine Kombattanten sein sollen, ist kein Grund, weshalb das Leben offizieller Kombattanten mehr gefährdet werden sollte, als unter den Bedingungen eines regulären Kampfes.

Was wir statt der gegenwärtig unscharfen und unpraktischen, aus regulären Konflikten bekannten Unterscheidung benötigen, ist eine Skala der Verwicklung in terroristische Aktivitäten: Es gibt Personen, die sind direkt, indirekt oder gar nicht involviert. Die letzteren beiden Kategorien mögen nie eine Rolle spielen. Eine Operation könnte sich nur auf die direkt involvierten konzentrieren, d.h. nur dann, wenn sie eine bedeutsame Rolle bei der Schaffung einer ansonsten unvermeidlichen Gefahr darstellen.

Unsere Doktrin erlaubt somit gezielte Tötungen, wenn es notwendig wird, eine gegen die Bürger des Staates Israel gerichtete Operation zu verhindern und die Rolle des Ziels entscheidend für die Durchführung der Operation ist. Es handelt sich dabei nicht um eine Form von Bestrafung. Nur ein Gericht ist in der Lage, eine Strafe aufzuerlegen. Was erreicht werden soll, ist, einen Terroranschlag bei seiner versuchten Ausübung zu verhindern. Diese Art von Töten ist auch keine Form der Abschreckung. Aus Abschreckungsmotiven zu töten wäre wie ein Akt des Terrorismus. Nach unserer Doktrin wäre es nicht gestattet, jemanden aus Gründen der Abschreckung zu töten. Israel hat die beiden Hamas-Führer Scheich Ahmed Yassin und Abdel Aziz Rantisi z.B. nicht zur Erreichung eines Abschreckungseffekts getötet, sondern weil sie eine entscheidende Gefahr für israelische Leben darstellten. Abschreckung muss eine daraus resultierende Nebenwirkung bleiben.

Unsere Doktrin unterscheidet auch zwischen drei verschiedenen Verhaltensstandards für Soldaten im Kampfeinsatz: (a) ein Standard für den Fall, dass sie sich einer reinen Gruppe feindlicher Kombattanten gegenübersehen; (b) ein Standard, für den Fall, dass sie feindliche Nichtkombattanten, die sich nicht am Kampf beteiligen und nicht in der Nähe zu Feindkombattanten befindlich sind, gegenüberstehen; und (c) ein Standard für den Fall, dass sie einer gemischten Gruppe aus Kombattanten und Nichtkombattanten begegnen.

Die Gaza-Operation fand unter Bedingungen statt, die großteilig die Anwendung des dritten Verhaltensstandards verlangten. In der dritten Situation erfordert die Theorie des „gerechten Krieges“ das Prinzip der „doppelten Wirkung.“ Diesem Prinzip nach ist ein Ziel, das in und durch sich selbst moralisch gerechtfertigt ist, auch dann moralisch gerechtfertigt, wenn es erreicht wird, selbst wenn es zu unerwünschten Konsequenzen führt – vorausgesetzt, dass die unerwünschten Konsequenzen unvermeidlich und unbeabsichtigt sind und dass man sich darum bemüht hat, die negativen Externalitäten zu minimieren.

Die Notwendigkeit, Nichtkombattanten zu warnen

Unsere Doktrin verlangt, dass, wann immer möglich, Nichtkombattanten gewarnt werden, für den Fall, dass sie eine Gegend bewohnen, in der zu verweilen gefährlich werden könnte. Die Verantwortung, die Verletzung von Nichtkombattanten zu minimieren, bringt die Verantwortung mit sich, sie von den Terroristen zu trennen und aus dem Konfliktgebiet zu entfernen. In Gaza haben die IDF eine Reihe effektiver Maßnahmen ergriffen, um Kollateralschäden zu minimieren, einschließlich der weiten Verbreitung von Warnflugblättern, mehr als 150 000 Warnanrufe an Nachbarn sowie Warnschüsse (sogenanntes „auf’s Dach klopfen“) – präzedenzlos in jeglicher Hinsicht.

In einem Essay im New York Review of Books haben Avishai Margalit und Michael Walzer unsere Doktrin dahingehend angegriffen, dass diese Warnungen nicht ausreichen würden. „In solchen Fällen,“ so schreiben sie, „werden manche Zivilisten nicht gehen, auch wenn sie wiederholt gewarnt werden – z.B. weil sie alt und krank sind, oder sich um Angehörige kümmern, die alt und krank sind, oder weil sie vielleicht befürchten, dass ihre Häuser geplündert werden, oder sie nirgendwo hin können.“

Sollte Israel also unter solchen Umständen Truppen schicken, um herauszufinden, ob es außer Terroristen noch Nichtkombattanten vor Ort gibt? Unsere Doktrin besagt, dass Israel dazu nicht genötigt ist, denn die Mischung von Terroristen und Nichtkombattanten befindet sich nicht in unserer moralischen Verantwortung, v.a. nicht in einem Territorium, über das wir keine effektive Kontrolle ausüben, so wie in Gaza. Bei einem Zustand effektiver Kontrolle würde die Verantwortung, zwischen Terroristen und Nichtkombattanten zu unterscheiden, auf den Schultern Israels lasten. Wir verfügen über diese Kontrolle in Tel Aviv, Jerusalem, den Golanhöhen und vielen anderen Orten, weshalb wir an diesen das Leben unserer Sicherheitskräfte gefährden, um Verbrechen zu verhindern, ohne die sich in der Nähe befindlichen zu verletzen. An dieser Stelle ist es unsere Pflicht.

Doch keine Armee der Welt würde ihre Soldaten gefährden, nur um nicht bereits gewarnte Nachbarn eines Gegners oder eines Terroristen zu treffen. Israel sollte das Leben seiner eigenen Soldaten über das Leben der gewarnten Nachbarn von Terroristen stellen, wenn es auf einem Gebiet operiert, das ihm keine effektive Kontrolle gestattet. Gaza war nicht unter effektiver Kontrolle. Daher hatte man das Leben der Soldaten aus diesen Gründen nicht zu riskieren. Denn wurden schon eine Reihe von bekanntermaßen effektiven Warnungen an die Nichtkombattanten eines solchen Gebietes ausgesprochen, dann muss das Leben der Soldaten höherer Priorität haben.

Um das zusammenzufassen: Israel sollte das Leben seiner eigenen Soldaten über das Leben der ausreichend gewarnten Nachbarn von Terroristen stellen, wenn es in einem Territorium agiert, über das es keine effektive Kontrolle ausübt, da Israel in solchen Gebieten keine moralische Verantwortung dafür übernehmen kann, immer sauber zwischen gefährlichen und harmlosen Individuen zu unterscheiden. Wer krank ist, kann weiße Fahnen hissen bzw. die Angehörigen können dies auch. Eine Person, die Angst vor der Plünderung ihres Hauses hat, wird nicht durch ihr merkwürdiges Verhalten einen Grund darstellen, dass Leben von Soldaten zu gefährden und eine Person, die nicht wüsste, wohin sie gehen könnte, ist schlichtweg ein Mythos.

Verhältnismäßigkeit verstehen

Noch ein Wort zur Verhältnismäßigkeit. Viele Kritiker der Gaza-Operation haben den Vorwurf erhoben, dass, da nur wenige Menschen durch die Raketenangriffe auf die israelische Bevölkerung zu Schaden kamen, während viele Menschen durch die israelische Reaktion starben, diese Reaktion unverhältnismäßig gewesen sei und daher gegen das Völkerrecht verstieße. Dieser im öffentlichen Diskurs verwendete Gebrauch des Begriffs „Verhältnismäßigkeit“ ist jedoch in der Regel ein falscher. Zunächst ist die Zahl israelischer Opfer kein zuverlässiger Gradmesser für die von den feindlichen Raketen ausgehende Gefahr. Am 31. Dezember 2008 schlug eine Grad-Rakete in ein Klassenzimmer in Beersheba ein. Hätte die Rakete zu einem Zeitpunkt getroffen, als Unterricht war, wären Dutzende Schulkinder ums Leben gekommen. Glück mindert die von den Angriffen ausgehende Gefahr nicht. Verhältnismäßigkeit ist keine numerische Vergleichsgröße, sondern eine Einschätzung der Entschuldbarkeit der Kollateralschäden, die für einen militärischen Vorteil entstehen.

Ein Beispiel: Zu Beginn der Gaza-Kampagne wurde ein Polizeiquartier beschossen, da die sogenannten Polizisten Teil der Hamas-Sicherheitskräfte waren, einige von ihnen Selbstmordattentäter, andere feuerten Raketen ab. Es handelte sich bei ihnen nicht um unschuldige Menschen, die den Verkehr regeln. Sie waren Teil der Hamas-Sicherheitskräfte und agierten als Reserveeinheit. In einer Kriegssituation ist es gestattet, Reserveeinheiten, die ins Feld geschickt werden, anzugreifen. So zu tun, als wären diese Leute alle unschuldige Polizisten gewesen, ist irreführend. Selbst wenn einige von ihnen unschuldig gewesen wären, so wäre ein Angriff auf sie absolut gerechtfertigt durch den dadurch zu gewinnenden militärischen Vorteil. (Wir gehen davon aus, dass es vergeblich gewesen wäre, die Unschuldigen zu warnen.)

Gab es einige schießwütige Soldaten in Gaza? Vielleicht. Gab es aber eine Politik der Schießwütigkeit in Gaza? Aufgrund verschiedener Beweise, meinen wir, dass es keine gegeben hat. Hätte es eine solche Politik gegeben, dann wären viele Tausend palästinensischer Opfer zu beklagen gewesen. Und hätte es diese Schießwut gegeben, dann hätte die Verteilung von Männern, Frauen und Kindern unter den Opfern stärker ihrer Verteilung unter der Allgemeinbevölkerung entsprochen. Doch dies war nicht der Fall. Die überwiegende Zahl der Opfer in Gaza waren Männer. Frauen und Kinder stellten nur ein Sechstel der Opfer.

Israel in Gaza, Amerika im Irak – Ein Vergleich

Man vergleiche die Gaza-Operation mit der Operation Phantom Fury, dem Einsatz der US-Marines in Falludscha, Irak, Ende 2004. Viele der 350 000 Einwohner Falludschas flohen vor der Operation und in der Stadt befanden sich an die 3 000 Aufständische. Während der Operation wurden ungefähr 6 000 Iraker, darunter 1 200 bis 2 000 Aufständische getötet. Von den 50 000 Gebäuden der Stadt wurden ungefähr 10 000 zerstört, einschließlich sechzig Moscheen, in welchen beachtliche Mengen an Waffen und Munition gelagert worden waren. Selbst nach palästinensischen Angaben, die unzuverlässig sind, starben in Gaza nicht mehr als 1 400 Palästinenser. D.h, die von den Vereinigten Staaten angerichteten Zerstörungen waren also weitaus größer als die israelischen in Gaza. Man kann also nicht behaupten, dass das israelische Vorgehen über geringere Hemmungen verfügte, als das anderer demokratischer Staaten.

Dieser Vergleich zwischen Operation Phantom Fury und Operation Gegossenes Blei soll nicht dazu dienen, Erstere zu brandmarken, Letztere hingegen zu loben. Wir vergleichen, weil uns die Art und Weise, mit der demokratische Staaten militärisch vorgehen, interessiert, als Schritt hin zu einem Völkergewohnheitsrecht anstelle einer kreativen oder oft auch missgünstigen Auslegung des Völkerrechts.

Das Völkergewohnheitsrecht entsteht mittels eines historischen Prozesses. Wenn Staaten in militärische Auseinandersetzungen mit anderen Staaten, Milizen oder ähnlichem verwickelt sind und sie sich alle einander ähnlich verhalten, dann besteht die Chance, dass sich dies zum gewohnheitsmäßigen Völkerrecht entwickelt. Israel kommt eine Schlüsselrolle in der Entwicklung eines Völkergewohnheitsrechts auf diesem Gebiet zu, da es sich in einer Frontstellung im Kampf gegen den Terrorismus befindet. Ich bin nicht Optimist genug zu glauben, dass die Welt Israels führende Rolle in dieser Entwicklung bald anerkennen wird. Meine Hoffnung ist, dass unsere Doktrin, vielleicht mit ein paar Veränderungen und Ergänzungen auf diese Weise Teil eines gewohnheitsmäßigen Völkerrechts wird, das die Kriegführung reguliert und Katastrophen verhindert.

Untersuchungen

Wann immer Behauptungen über das Vorgehen der IDF in Gaza auftauchen, sollten die israelischen Streitkräfte sie untersuchen, egal, wer sie geäußert hat und selbst wenn sie fabriziert erscheinen. Ein Kommandeur sollte Vorwürfe gegen seine Soldaten nicht ignorieren. Dies ist professionelle, ethische und moralische Pflicht.

Die IDF sind eine seriöse Organisation, daran interessiert, ihr Handeln auf allen Ebenen zu verbessern – professionell, militärisch, rechtlich, moralisch und ethisch. Sämtliche Militäraktionen in Gaza sollten einer professionellen, gründlichen und detaillierten Untersuchung unterzogen werden, so wie jede andere nicht-routinierte und komplexe professionelle Operation. Die IDF haben die Verpflichtung, sich selbst zu untersuchen, so wie jede andere professionelle Organisation. Dieser Standard gilt für Chirurgen nach der Operation, Ingenieure nach dem Bau einer Brücke und Kommandeure nach Militäraktionen. Werden einige Soldaten verdächtigt, das Gesetz gebrochen zu haben, dann muss die Militärpolizei aktiv werden. Und tatsächlich finden diese Untersuchungen auch statt. Nicht mehr wird verlangt.


Prof. Asa Kasher ist emiritierter Laura Schwarz-Kipp Professor für Professionelle Ethik und Praktische Philosophie an der Universität Tel Aviv. Er ist Ko-Autor des ethischen Kodex der Israelischen Streitkräfte The Spirit of the IDF: Values and Basic Principles von 1994. Seine Forschung deckt einen weiten Bereich an philosophischen und ethischen Problemen ab, einschließlich militärischer und medizinischer Ethik, Sprachphilosophie sowie Fragen jüdischer Identität. 2000 wurde Prof. Kasher mit dem Israel-Preis ausgezeichnet. Dieser Text basiert auf einer Präsentation im Institute for Contemporary Affairs des JCPA in Jerusalem, 26. November 2009. Der Artikel wurde zusammen mit dem Global Law Forum verfasst und vom Legacy Heritage Fund finanziert.