Die Struktur des Islamischen Staates (IS/ISIS)
Die Struktur des Islamischen Staates (IS/ISIS)
Jacques Neriah
Es wurde schon viel über ISIS – den Islamischen Staat im Irak und Syrien – geschrieben. Die meisten Kommentatoren sehen dabei in ISIS eine weitere Terrororganisation im Stile al-Qaidas, die mit Hilfe von Kohorten unorganisierter Gewalttäter einen Guerillakrieg führt. Ihre Ausrüstung im Stil der Taliban, ihre Geländewagen, die schwarzen Uniformen der Mehrzahl ihrer Kämpfer, ihre unrasierten Bärte, Turbane, Kapuzen und Stirnbänder mit arabischen Parolen tragen zur Verwirrung bei.
Doch ISIS ist weit mehr als das. ISIS ist ein terroristischer Staat mit nahezu allen Elementen von Regierungsgewalt. Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges vor 3 Jahren hat sich der Islamische Staat von einer extremistischen Splittergruppe zur stärksten, brutalsten, am besten ausgerüsteten und finanzierten Miliz des gegenwärtigen ethnisch-konfessionellen Krieges in Syrien und Irak entwickelt.
Zunächst also die Frage nach dem Namen und den Grenzen dieses Islamischen Staates. Seit Beginn ihres Auftauchens 2011 in Syrien lautete der Name der Organisation ISIS. Mit der im Sommer 2014 verkündeten Ausrufung des islamischen “Kalifats”, geführt von Ibrahim ‘Awad Ibrahim Al Badri al Samarra’i, alias Abu Bakr al-Baghdadi – nunmehr selbst erklärter “Kalif“ Ibrahim – verwandelte sich die Gruppe in den “Islamischen Staat” (Al Dawla Al Islamiya) um zu betonen, dass das Kalifat nicht begrenzt ist auf Irak, Syrien, Israel (Palästina), Jordanien oder die “Levante”, sondern weit über diese Grenzen hinaus Ambitionen hat.
Von Spanien bis nach China – Der Fünfjahresplan des IS
Hält man sich die vom Islamischen Staat publizierten Karten vor Augen, dann wird das Kalifat irgendwann Andalusien im Westen Spaniens umfassen, sich über den Maghreb Nordafrikas erstrecken (und Westafrika einschließlich Nigeria), durch Libyen und Ägypten führen (als geografische Einheit – Ard Al-Kinana – gesehen) sowie Gebiete umfassen, die nach Sprache des Islamischen Staates Ard al-Habasha (Kamerun, Viktoria-Seen, Äthiopien, Somalia), Hidschaz (Saudi Arabien und Golfstaaten), Jemen bis hin nach Khurasan im Osten – die zentralasiatischen islamischen Republiken von Aserbaidschan über Pakistan und den südwestlichen Teil Chinas, der Region der Uiguren (alles checken?) reichen. Ebenso dazu gehören sollen der Iran und die Türkei (als Anadol bezeichnet) sowie Teile Europas (v.a. die Balkanstaaten – entlang der Grenzen des ehemaligen Osmanischen Reiches mit der Habsburger Monarchie).
Regierungsstruktur des IS
Der “Kalif” Ibrahim ist der absolute Entscheidungsträger des Islamischen Staates. Seine Befehle werden ohne Einspruchsmöglichkeit umgesetzt. Als Repräsentant des Propheten Mohammed verfügt er über absolute Macht und teilt keinerlei Autorität mit seinen Untergebenen. Einzige Ausnahme ist Abu Muslim Al Turkemani – der Berichten zufolge als sein Stellvertreter dient. (1) Turkmani, auch bekannt als Fadl Ahmad Abdullah al-Hiyali, ist für die Verwaltung der irakischen Provinzen des Islamischen Staates zuständig. Er war Oberstleutnant im nachrichtendienstlichen Korps der irakischen Armee sowie Offizier der Spezialeinheiten.
Kalif Ibrahim steht an der Spitze einer Machtpyramide.(2) Obschon bislang – v.a. aus Sicherheitsgründen – wenig über die Regierungsstruktur des Islamischen Staates veröffentlicht wurde scheint der Islamische Staat v.a. aus militärischen Führern zu bestehen, die in Saddam Husseins Armee dienten. Die vermutete Struktur sieht so aus:
Der militärische Rat: Geführt von Abu Ahmad al ‘Alawani gehören dem Rat drei Mitglieder an, deren Aufgabe Planung und Überwachung der militärischen Kommandeure und der Aktionen im Feld ist. Alle Mitglieder wurden vom Kalif ernannt.
Der Shura-Rat: Geführt Abu Arkan Al Ameri sollen diesem Beraterstab 9 bis 11 Personen angehören, die vom Kalifen Ibrahim ernannt wurden. Theoretisch könnte dieser Rat den Kalifen absetzen, doch eben nur in der Theorie. Seine Hauptaufgabe ist die Überwachung von Staatsgeschäften.
Die Judikative: Geführt von Abu Mohammad al-Ani kümmert sich diese Institution um alle Rechtsfragen sowie die Verbreitung der Botschaft des Islamischen Staates durch Rekrutierung und Predigten.
Der Rat für Verteidigung, Sicherheit und Nachrichtendienste: Diesem Rat mag z.Zt. die gewichtigste Rolle zukommen, da er nicht nur verantwortlich ist für die persönliche Sicherheit des Kalifen, sondern auch dazu dient, die Befehle, Schlachtpläne und Rechtsbeschlüsse umzusetzen.
Zudem ist die nachrichtendienstliche Sammlung von Daten und deren Auswertung Aufgabe dieses Rates. Geführt wird er von Abu Bakr (AKA Abu Ali) al-Anbari, einem ehemaligen Generalmajor in Saddams Armee sowie drei weiteren hochrangigen Offizieren aus der Armee Husseins
Die Behörde für Öffentlichkeitsarbeit des Islamischen Staates: Geführt von Abu Al Athir Omru al Abbassi. Sprecher des Islamischen Staates war Abu Mohammad al-‘Adnani, der bei einem Angriff ums Leben kam und vermutlich von Abu Ahmad al ‘Alawani ersetzt wurde.
Vor Kurzem kam es zu neuen Erkenntnissen, als USB-Sticks aus dem Hause des IS-Militärchefs auf irakischem Territorium Abu Abd el Rahman al Bilawi entdeckt wurden, der ebenfalls bei einem Angriff ums Leben kam. Sie scheinen eine parallele Struktur des Staates anzudeuten, die als Exekutive des Staates agiert und als eine Art “Kabinett” sich den Tagesgeschäften des IS widmet. (3)
Die jüngsten Ereignisse vor Ort haben die brutaleren Aspekte des “Regierungsstils” des IS enthüllt, wie in vorangegangen Analysen erläutert.(4) Die oberste Priorität des Kalifats war ethnische Säuberung gegen potentielle Gegner und die Durchsetzung seiner religiösen Dogmen.
Sobald der IS in einem Gebiet so etwas wie territoriale Homogenität hergestellt hat, beginnt Phase Zwei im Machtausbau: Islamische Bildung im Sinne der Staatsideologie. Die Bildungsbehörde des Islamischen Staates erließ eine Erklärung, die alle Schuldirektoren und Lehrer der syrischen Stadt Raqqah anwies, mit dem Beginn des neuen Schuljahrs so lange zu warten, bis sie ein siebentägiges Seminar absolviert hätten, in denen ihnen beigebracht wurde, welche Themen zu unterrichten fortan erlaubt und gestattet wäre – in Übereinstimmung mit den Werten des IS. (5) Schaut man sich die Liste genauer an, wird schnell deutlich, dass die Zahl der verbotenen Dinge die der gestatteten bei weitem überwiegt:
“Absolut verboten sind: Kunst, Musik, Gesellschaftskunde, Soziologie, Geschichte, Sport, Philosophie, Psychologie und Religionsunterricht. (Religionsunterricht findet allein in den religiösen Schulen, den Madrasas statt). Nicht erwähnt werden darf das Wort Syrien oder “Heimat”. Die syrische Nationalhymne ist verboten. Stattdessen muss den Schülern beigebracht werden, Islamischer Staat, Land des Islam oder Provinz Sham (die Levante) zu sagen. In Mathematik dürfen keine Beispiele angeführt werden, wie Zinsen zu berechnen sind oder die auf Demokratie und Wahlergebnisse verweisen. In der Naturwissenschaft dürfen Darwin oder der Darwinismus nicht erwähnt werden.”
Rekrutierung von Ausländern
Diese radikalen Veränderungen scheinen nicht zur Entfremdung zwischen dem IS und ausländischen Dschihadisten geführt zu haben. Im Gegenteil – dem Islamischen Staat ist es derart erfolgreich gelungen, eine Atmosphäre des Hasses gegen alle “Ketzer” und all das, was der Westen repräsentiert, zu erzeugen, dass er Tausende ausländische und arabische Freiwillige des Dschihad dazu gebracht hat, ihre alten Loyalitäten zu kündigen und sich ihm anzuschließen. Allein einer Schätzung zufolge haben sich “vermutlich 12,000 ausländische Kämpfer” dem IS angeschlossen. (6)
Mit der Eroberung Mosuls und großer Gebiete in Syrien und im Irak hat der IS ein Leuchtfeuer für extreme Dschihadisten in der ganzen Welt entfacht, v.a. für jene, welche dem Beispiel des Islamischen Staates im eigenen Land nachfolgen wollen. Die Begeisterung, die dem IS von Seiten junger Muslime in westlichen Ländern entgegenschlägt und zur Rekrutierung von Fußvolk beiträgt, hat eine präzedenzlose Situation geschaffen. Westliche Regierungen werden sich der unmittelbaren Gefahr bewusst, die von heimkehrenden IS-Kämpfern ausgeht, die ihre Indoktrinierung und Erfahrungen mit Waffen und Sprengstoffen vom IS an die Heimatfront importieren.
Beim Islamischen Staat scheint es sich nicht um ein vorübergehendes Phänomen zu handeln. Die gegenwärtig etablierten Strukturen deuten an, dass, selbst wenn die Führer des IS getötet werden sollten, sein System die Nachfolge gut geregelt hat – so hat auch al-Qaida die Tötung Osama Bin Ladens überlebt. Den Islamischen Staat zu beseitigen, dürfte sich als langes und schwieriges Unterfangen erweisen. Gelingt es nicht, eine Kluft zwischen IS und der lokalen Bevölkerung zu erzeugen, und scheitert man daran, eine dauerhafte politische Lösung für die sunnitisch-schiitischen Rivalitäten im Irak und den syrischen Konflikt zu finden, dann stehen die Erfolgsaussichten schlecht.
1 http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/middleeast/iraq/10956280/Inside-the-leadership-of-Islamic-State-how-the-new-caliphate-is-run.html
2 http://www.almayadeen.net/infographics/T0QSkHTn2UWk83bXlnj1
3 Telegraph, sup.cit.
4 http://jcpa.org/islamic-state-ends-christian-presence/
5 http://www.alarabiya.net/ar/arab-and-world/syria/2014/08/30/%D8%AF%D8%A7%D8%B9%D8%B4-%D9%8A%D9%81%D8%B1%D8%B6-%D9%86%D8%B8%D8%A7%D9%85%D9%87-%D8%A7%D9%84%D8%AA%D8%B9%D9%84%D9%8A%D9%85%D9%8A-%D8%AF%D9%88%D9%86-%D9%81%D9%86-%D9%88%D8%AA%D8%A7%D8%B1%D9%8A%D8%AE.html
6 Michael Singh, “The Islamic State’s Triple Threat,” Foreign Policy http://shadow.foreignpolicy.com/posts/2014/09/05/the_islamic_states_triple_threat