Die gegenwärtigen Kampfhandlungen zwischen Israel und Hamas – eine vorläufige Einschätzung

Die gegenwärtigen Kampfhandlungen zwischen Israel und Hamas – eine vorläufige Einschätzung

Jonathan Dahoah-Halevi

Die Operation „Gegossenes Blei“ begann am 27. Dezember 2008 mit einem Luftangriff gegen eine Reihe von Hamas-Ziele im Gazastreifen, verursachte die Zerstörung von Kommandoposten und Regierungsbüros und fügte dem militärischen Arm der Hamas ernste Schäden zu. Dies war eine strategische Überraschung für die Hamas-Führung, welche die israelischen Maßnahmen in Ausmaß und Intensität falsch eingeschätzt hatte. Offensichtlich basierten ihre Annahmen auf den in den vergangenen Jahren gesammelten Erfahrungen, als Israel meistens davon abgesehen hatte, die Führung der Organisation anzugreifen und sich meist mit begrenzten Bodenoperationen und gezielten Tötungen gegen an Angriffen beteiligte Militante zufrieden gab.

Die Hamas-Führung irrte sich in ihrer Analyse einer möglichen israelischen Antwort genauso, wie sich Arafat im September 2000 bei der Eröffnung der Al-Aqsa-Intifada geirrt hatte, die Hisbollah die Konsequenzen ihres Angriffs und der Entführung israelischer Soldaten im Juli 2006 falsch einschätzte sowie Saddam Hussein die mögliche amerikanische Reaktion bei seiner Invasion Kuwaits im August 1990 falsch interpretierte. Die Rechnung, welche die Hamas Israel aufzwingen wollte – Raketen auf israelische Ortschaften als Antwort auf israelische Sicherheitsmaßnahmen – ging nun mit dem Angriff der israelischen Luftwaffe nicht auf. Das von der Hamas beabsichtigte Gleichgewicht des Schreckens droht nun zu kollabieren.

Gegenwärtig versucht die Hamas-Führung ihre Ränge neu zu organisieren und den Gegenschlag vorzubereiten. Aus Perspektive der Hamas handelt es sich nur um den Beginn einer militärischen Kampagne. Sie ist entschlossen, so aggressiv es geht zurückzuschlagen, um ihre Abschreckungswirkung gegen Israel zu rehabilitieren, um Israel dazu zu bringen, die Hamas-Führung nicht anzutasten und um die gegenwärtige Krise dafür zu nutzen, einen diplomatischen Preis für eine Rückkehr zur „Ruhe“ zu fordern – nach einer Runde Blutvergießens, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Die der Hamas zur Verfügung stehenden Mittel lassen sich wie folgt zusammenfassen:

1. Eine Terrorwelle: Die Hamas kann den Konflikt auf das israelische Territorium ausdehnen, mittels Selbstmordattentaten und der Nutzung der operationellen Infrastruktur, über die die Hamas in Israel verfügt. IDF-Stellungen nahe der Grenze zu Gaza und an den Grenzübergängen könnten bevorzugte Ziele für strategische Terrorangriffe und Entführungen werden sowie könnte die Reichweite der Raketen, mit denen israelische Städte beschossen werden, ausgedehnt werden

2. Sturz der Fatah-Regierung unter Mahmoud Abbas: Die Hamas hat ein Interesse daran, eine Niederlage in einen Sieg zu verwandeln, indem im Westjordanland – mit den Worten Khaled Mashaals gesprochen – der „militärischen Volksaufstand Intifada“ erneuert und damit das Regime von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas geschwächt wird, dem Hamas Verrat und Kollaboration mit Israel im Angriff auf Gaza vorwirft. Die Hamas hat ihre Delegitimierungskampagne gegen Abbas verstärkt und bereitet den Boden, um sich ab 9. Januar 2009 – der Tag, an dem seine Amtszeit offiziell ausläuft – vollständig von ihm zu distanzieren sowie ihn eventuell zum Abschuss freizugeben.

3. Die Öffnung des Rafah-Grenzübergangs: Eine der wesentlichen Ziele der Hamas ist es, Ägypten dazu zu zwingen, den Grenzübergang Rafah vollständig und frei zu öffnen (gegenwärtig geschieht dies nur zeitweise in Koordination beider Parteien). In diesem Ziel werden sie von der ägyptischen Muslimbruderschaft unterstützt und sie versuchen, indirekt die Ägypter aufzuhetzen, Massendemonstrationen gegen das Regime durchzuführen.

Die Schlüsselworte bei diesen möglichen Reaktionen der Hamas sind „Geduld“ und „Beständigkeit“, d.h. die Fähigkeit den israelischen Angriff abzufedern und gleichzeitig auf eine Besserung der Zustände zu warten bis der Gegenschlag geführt werden kann. Der Hamas ist durchaus bewusst, dass schwere Terrorangriffe gegen Israel das Land dazu bringen, seine Schläge zu intensivieren, gegen die Führung der Organisation vorzugehen sowie eine umfassende Bodenoperation zu starten. Eine Bodenoperation wäre durchaus im Interesse der Hamas, könnte sie doch so internationale Unterstützung gewinnen sowie öffentlichen Druck auf weitere Regime, z.B. Saudi Arabien und Jordanien, ausüben.

Gegenwärtig sieht es so aus, dass der Ausgangspunkt für eine neue „Waffenruhe“ sich für die Hamas nur dann lohnt, wenn es ihr gelungen ist, Israel einen hohen Preis durch Terrorangriffe abzuverlangen sowie bei der internationalen Gemeinschaft voranzukommen in der Anerkennung des Hamas-Regimes als legitimen Akteur und dem Empfang internationaler Garantien für die Aussetzung der Blockade Gazas. Es ist nicht abzusehen, ob die Hamas auch im Ausland versuchen wird, Anschläge gegen israelische oder jüdische Ziele zu verüben, die Entwicklungen in Gaza könnten jedoch eine Katalysator für andere Terrororganisationen sein, dies zu tun. Die Hamas dürfte auch ein Interesse daran haben, Gilad Shalit als Trumpfkarte in Verhandlungen mit Israel am Leben zu erhalten.